Wenn es Nacht wird in Manhattan
verabschiedet. Als ich zurückkam, hatte ich ein paar Geschenke für sie und das Baby mitgebracht, obwohl sie gerade erst ein paar Wochen schwanger war. Sie erwartete mich mit gepackten Koffern an der Tür.”
Er lehnte sich gegen das Geländer und mied ihren Blick, als er weitersprach: “Sie erzählte mir, dass sie während meiner Abwesenheit im Krankenhaus war. Sie hatte sich auch mit einem Anwalt in Verbindung gesetzt. Und während sie zur Tür hinausging, sagte sie mir, sie würde nicht einmal im Traum daran denken, das Kind eines kaltblütigen Killers auf die Welt zu bringen.”
Tippy hatte geahnt, dass es in seinem Leben Verletzungen geben musste, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten. Jetzt kannte sie die Wahrheit. Nun verstand sie auch, warum er so vernarrt in die Zwillinge von Judd und Christabel war. Sie konnte seinen Schmerz fast körperlich spüren, so als ob es ihr eigener wäre. Und gleichzeitig war sie zutiefst geschmeichelt, dass er ihr so persönliche Dinge anvertraute.
“Kein Kommentar?”, fragte er kalt, ohne sie anzusehen.
“War sie sehr jung?”, fragte sie leise.
“Genauso alt wie ich.”
Sie schaute auf seine Hände, die das Stahlgeländer umklammerten – so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ansonsten zeigte er keine Reaktion.
“Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun”, antwortete sie ruhig. “Ich würde niemals mit einem Mann schlafen, ohne Vorkehrungen zu treffen, es sei denn, ich liebte ihn. Und ich denke, ein Kind gehört dazu.”
Langsam wandte er den Kopf und schaute sie neugierig an. “Sie hatte recht. Ich war ein kaltblütiger Killer”, sagte er tonlos.
Sie sah seine grimmige Miene. Ihr Blick war sanft. “Das glaube ich nicht.”
“Wie bitte?”, fragte er unwirsch.
“Der Kommandant hat Rory erzählt, dass du Mitglied einer bestens ausgebildeten Spezialeinheit beim Militär warst”, sagte sie. “Sie haben dich losgeschickt, wenn Verhandlungen nichts mehr brachten und wenn Menschenleben auf dem Spiel standen. Jetzt sag mir bloß nicht, dass du ein Unterweltkiller warst oder für Geld getötet hast. So eine Sorte Mensch bist du nicht.”
Er schien den Atem anzuhalten. “Du weißt gar nichts über mich”, erwiderte er barsch.
“Meine Großmutter war Irin. Sie hatte das zweite Gesicht. Das ist eine besondere Gabe. Alle Frauen in meiner Familie haben sie – bis auf meine Mutter”, ergänzte sie. Liebevoll ruhte ihr Blick auf seinem Gesicht. “Ich weiß von Dingen, von denen ich besser nichts wüsste. Ich kann Ereignisse voraussehen, ehe sie eintreten. In letzter Zeit habe ich mir große Sorgen um Rory gemacht, weil ich spüre, dass er in Gefahr schwebt.”
“Ich glaube nicht an Hellseherei”, antwortete er steif. “Das ist Aberglaube.”
“Vielleicht für dich. Ich sehe es nicht so.” Auf der Suche nach ihrem kleinen Bruder ließ sie ihren Blick durch den Saal wandern. Sie entdeckte ihn inmitten einer Gruppe von Besuchern, die einen ausgestopften urzeitlichen Quastenflosser betrachteten, der von der Decke hing.
Cash fühlte sich verletzt. In Gegenwart dieser Frau hatte er das Gefühl, vollkommen durchschaubar geworden zu sein, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er kapselte sich lieber ab und behielt seine Geheimnisse für sich. Er wollte nicht, dass Tippy seine Gedanken erraten konnte.
“Jetzt habe ich dich wütend gemacht. Das tut mir leid”, sagte sie leise, ohne ihn anzuschauen. “Ich gehe jetzt in den Laden mit den Einstein-Sachen. Rory hätte gern ein T-Shirt. Treffen wir uns doch in einer Stunde in der Eingangshalle.”
Er hielt sie zurück. “Warte. Lass uns zusammen gehen.” Er nahm ihre Hand. Wortlos schlenderten sie durch einige der kleineren Ausstellungsräume, die sich bereits geleert hatten. Vor einer Vitrine blieben sie stehen. Cash legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. “Ich habe Rory mal gesagt, dass mir Aufrichtigkeit über alles geht.”
“Nicht, wenn es darum geht, dass irgendjemand in deinem Privatleben herumschnüffelt.”
“Ich habe dir von meinem Privatleben erzählt”, erwiderte er und holte tief Luft. “Niemand sonst weiß etwas von meinem Kind.”
“Ich habe das zweite Gesicht”, erinnerte sie ihn lächelnd.
“Ja.” Flüchtig berührte er ihre Wange. “Ich habe mehr Narben auf der Seele als du, und das will etwas heißen. Wir sind beide gebrannte Kinder. Unter diesen Umständen wäre es verrückt, wenn wir etwas
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