wenn es Zeit ist
gepustet«, sagte ich, als ich bei ihr war, »ganz ehrlich.«
»Ich weiß«, antwortete Mama und streichelte mir über den Rücken. »Leider nicht genug.«
Oma lag nicht mehr im Wohnzimmer. Sie stand auch nie wieder in der Küche, buk, kochte oder fabrizierte Tinkturen aus Kräutern, so wie ich es kannte. Als die Stimmen und Schritte verhallt waren und sich die Tür der Stille zu meinem Zimmer wieder geöffnet hatte, war Oma nicht mehr da. Und sie sollte nie mehr wieder kommen.
Von Neugier, Freundschaft und dem Recht auf Geheimnisse (1973)
Ich ging wieder zum Transporter, wartete ungeduldig auf Michis Vater, damit wir das letzte Möbelstück nach oben tragen konnten. Die Neugier von Mädchen hatte ich unterschätzt, dachte tatsächlich, ich hätte deutlich genug gesagt, das Kästchen wäre tabu. Aber als wir ächzend mein neues Bett im Zimmer abstellten, hockte Michi auf dem Fußboden, hatte das Kästchen aus dem Ranzen geholt und hantierte an den Verschlüssen.
»Michi, nein!«, brüllte ich sie an, ließ ihren Vater mit dem Bett stehen, lief auf sie zu und nahm ihr das Kästchen aus der Hand und steckte es hilflos in meine Hose. »Es bleibt zu.«
»Hey, wir sind Freunde. Freunde haben keine Geheimnisse voreinander«, verteidigte sie sich eingeschnappt. Sie stand auf, ging zur Fensterbank und grinste verlegen. Ich atmete lauter, als es von der Anstrengung des Schleppens nötig gewesen wäre, ballte meine Hände zu Fäusten. Auf einmal sah ich ihre aufgerissenen Augen, das Entsetzen in ihrem Blick, sah sie zwei Schritte zurückweichen.
» Michi, wenn Henrik es nicht will, hast du das Kästchen auch nicht zu öffnen.« Herr Kloth wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn und sah seine Tochter scharf an. Zum Glück rief er sich in Erinnerung. Ich ließ den Arm sinken und atmete angespannt aus. Sollte das hier nicht unser Reich des Friedens werden? Wie konnte ich es so schnell entweihen?
»Ist ja schon gut« , maulte sie. »Ich verstehe nur nicht, warum er nicht neugierig ist. Kannst du verstehen, warum er noch nie hineingeschaut hat?«
Meine Mama kam ins Zimmer, sah sich um, fragte, was los wäre und ob wir noch etwas essen wollten.
Ich hätte noch nicht einmal begründen können, warum ich nicht hineinsehen wollte. Oft genug, wenn ich mit dem Kästchen alleine war, spielte ich an dem Verschluss, hielt es vor Spannung kaum aus, aber die Angst war größer. ›Aber du musst mir versprechen, sie allein und nicht aus reiner Neugier zu öffnen. Die Kiste birgt ein Geheimnis, das nur dann seine Kraft entfaltet, wenn du dich daran hältst.‹ Es war nur ein Gefühl, eine Ahnung, es wäre noch nicht so weit. Manchmal hatte ich den festen Glauben, der Verschluss spränge von selbst auf, wäre es an der Zeit.
Michi schüttelte den Kopf, sagte nichts mehr, sondern ging in unseren Wohnflur, nahm sich eine Scheibe Schinkenbrot, während ich das Kästchen auf die Fensterbank zurückstellte und das Bett an die Wand schob.
»Wir sehen uns am Montag?«, fragte Herr Kloth, als er sich verabschiedete. Michi war beleidigt schon nach unten gegangen und hatte sich in den Wagen gesetzt.
»Ja« , antwortete meine Mutter. »Ich freue mich. – Vielen Dank!«, rief sie ihm noch hinterher, bevor sie dir Tür schloss.
Vom ersten Tag (1976)
Ich lasse mir Zeit mit dem Geschirr. Nur ein paar Gesprächsfetzen höre ich in der Küche. Es geht um das Lieblingsthema meiner Mutter und Michi: Gäste. Beide legen schauspielerisches Talent an den Tag, wenn sie die Urlauber und Geschäftsleute parodieren, die im Hotel absteigen. Sie lachen dabei und haben ein Spiel daraus entwickelt, die Personen zu erraten, die sie sich gegenseitig vorführen. Dabei geht es Michi gar nicht, wie es meiner Mama früher ging. Michi musste noch nie im Betrieb helfen, weder ein Zimmer putzen noch am Empfang stehen. Sie sieht die Gäste nur, weil die Familie dort im Hotel wohnt. Es gibt ein kleines Apartment unter dem Dach, nicht sehr geräumig, aber Michi hat ihr eigenes Zimmer darin.
Als ich fertig mit dem Abwasch bin, steht Michi schon an der Tür.
»Nun hast du vor lauter Aufregung gar nichts über deinen ersten Tag erzählt.«
»Das ist ja mal wieder typisch, dass du jetzt erst fragst«, sagt sie grinsend. »Es war genau so langweilig, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Warum sollte ich fragen, wenn ich doch wusste, was du antworten würdest?« Ich lache Michi an.
»Um mir mal das Gefühl zu geben, du interessierst dich für
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