Wenn Frauen kochen
Morgen und überraschenden Abendessen, hatte es nur Süßigkeiten und Pizza vom Lieferservice gegeben, begleitet von der nagenden Angst, dass der Pizzabote einmal die gefürchteten Worte sagen würde: Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Oder: Hey, sind Sie nicht das Mädchen, das …
»Ich brauche ein bisschen Süße in meinem Leben«, antwortete Hannah dann immer auf Gus’ mahnende Worte. Heutzutage bestellte sie ihren Vorrat an Süßwaren übers Internet, und die Pizza kam tiefgekühlt und wurde zusammen mit Müsli, Milch, Brot und vielleicht einem Stück Cheddar in einer Kiste an die Tür geliefert. Selbst in einen Laden zu gehen, wagte sie nicht. In jedem Gang zwischen den Regalen lauerte die Gefahr, erkannt zu werden. Das zumindest hatte sie gelernt: Unerkannt zu bleiben war wesentlich leichter, wenn man sein Versteck möglichst nie verließ. Und genau das machte sich Hannah zum Prinzip. Sie ging jeden Morgen den ausgetretenen Pfad zu Gus’ Haus, aber sie betrat nie ihre eigene Garage, geschweige denn, dass sie mit ihrem roten Miata irgendwohin fuhr. So hatte es die Hannah-Schutzorganisation festgelegt, deren Vorsitzende und einziges Mitglied sie selbst war.
»Da erinnert sich doch niemand mehr dran«, hatte Gus sie
irgendwann einmal liebevoll aufgezogen. Sie wollte Hannah zu einer Party nach Manhattan mitnehmen, bei der ihr neues Kochbuch vorgestellt wurde.
»Einen Skandal vergisst keiner«, beharrte Hannah. Jemand, der nie öffentlich bloßgestellt worden war, konnte kaum nachvollziehen, dass sie auch nach all der Zeit noch immer daran dachte. Aber Hannah wusste, sie konnte nur ein glückliches Leben führen, solange sie sich an ihre eigenen eisernen Regeln hielt: Sie verließ so gut wie nie das Haus. Sie zog keinerlei Aufmerksamkeit auf sich, sie schrieb niemals über Sport und sie setzte lediglich ihre Initialen unter ihre Artikel - H. J. Levine. Früher hatte sie so gedacht wie Gus, hatte gehofft, dass sich niemand erinnerte. Und dann fand sie sich in einer »Was wurde eigentlich aus...«-Geschichte im Kabelfernsehen wieder. Für ihre Privatsphäre hatte sie einiges aufgegeben: Verabredungen (wobei sie dafür auch früher kaum Zeit gefunden hatte), Shopping (eigentlich hatte sie ihre Kleidung schon immer gern aus dem Katalog bestellt und war selbst als Teenager nie scharf aufs Shoppen), Freundschaften schließen (Gus war die eine beständige Ausnahme der Regel). Im Gegenzug dafür konnte sie frei atmen.
Sie tauchte sogar bei Gus’ Partys an Geburts- und Feiertagen auf. Hannah war überzeugt von Gus’ Stärke, sie zu schützen. Dort würde niemand wagen, ihr zu sagen, sie käme ihm bekannt vor. Letztlich wäre es auch geschmacklos, eine Bemerkung über ihre früheren Probleme loszulassen. Und Gus brachte in all ihren Gästen immer das Beste zum Vorschein.
Hannahs Zuwendung gegenüber ihrer einzigen Freundin war groß genug, dass sie alles riskierte - ihren Frieden, ihre Ruhe, ihre sichere Zurückgezogenheit -, um Gus’ Show zu retten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Sie saß an ihrem Schreibtisch und durchforstete beklommen
das Internet. Während sie die Überschriften in Google durchging, blieb ihr bei jedem Link vor Aufregung die Luft weg. Eine Menge über Gus. Gut, sehr gut. Und rein gar nichts über Hannah Joy Levine. Noch besser. Sie lehnte sich in ihrem gepolsterten grauen Schreibtischstuhl zurück, vorsichtig, um nicht hintenüberzukippen, wie es ihr schon öfter passiert war. Und der Boden war hart. Dort lagen immer noch die original Eichendielen, hier und da schon etwas abgetreten und mit nicht zusammenpassenden Läufern abgedeckt. Der Raum war eigentlich als Esszimmer gedacht, allerdings hatte Hannah nie in einen Esstisch und Stühle investiert. Es gab lediglich einen L-förmigen Tisch, den sie vor mehr als zehn Jahren bei Ikea gekauft hatte, und zwei an der Wand montierte Fernseher. Um die Nachrichten anzusehen, meine Liebe, hatte sie zu Gus gesagt, als die zum ersten Mal ihr Haus betreten durfte. Hannah wollte nicht raus aus dieser Welt, sie wollte sie lediglich hinter Glas betrachten.
Das Kutscherhaus war Hannahs erste - und einzige - große Anschaffung gewesen - abgesehen von dem roten Sportwagen, der nun mit abgeklemmter Batterie unter einer Schutzplane in der Garage stand. Ein Andenken aus vergangenen Zeiten. Das hübsche kleine Cottage war ursprünglich eine Investition gewesen. Sie hatte es entdeckt, als sie zum Training fuhr, den Tennisschläger auf dem Beifahrersitz
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