Wenn Frauen zu sehr lieben
begriff, was ich da gesagt hatte, begann ich, heftig zu weinen, weil mir klar wurde, dass genau dasselbe auch auf mich zutraf. Ich verdiente etwas Besseres als den Schmerz, die Frustration, die Extraausgaben und das Chaos. Bei jedem Gemälde, das ich wegwerfen musste, sagte ich mir:
So will ich nicht weiterleben.
»
Als Gary nach Hause kam, standen seine Sachen schon gepackt vor der Tür. Lisa hatte ihre beste Freundin angerufen, die sofort mit ihrem Mann gekommen war, um ihr dabei zu helfen, Gary hinauszuwerfen.
«Es gab keine Szene, weil meine Freunde da waren – er ging einfach fort. Später begann er jedoch, mich anzurufen und mir zu drohen, aber da ich überhaupt nicht reagierte, gab er nach einer Weile auf.
Sie müssen wissen, dass ich das nicht allein geschafft habe – keine Reaktion zu zeigen, meine ich. Am selben Nachmittag, nachdem sich die Aufregung ein bisschen gelegt hatte, rief ich meine Mutter an und erzählte ihr die ganze Geschichte. Sie empfahl mir, zu den Al-Anon-Meetings für erwachsene Kinder von Alkoholikern zu gehen. Nur weil ich so schrecklich litt, hörte ich auf ihren Rat.
Al-Anon ist wie Alateen eine Gemeinschaft für Verwandte und Freunde von Alkoholikern. Die Mitglieder treffen sich, um anderen und sich selbst dabei zu helfen, von der zwanghaften Fixierung auf diese Alkoholiker loszukommen. Die Gruppen für erwachsene Kinder von Alkoholikern dienen den Betroffenen dazu, sich von den Folgen des Zusammenlebens mit ihren alkoholabhängigen Eltern zu befreien. Diese Folgen entsprechen weitgehend den charakteristischen Merkmalen von Menschen, die zu sehr lieben.
«Damals fing ich an, mich besser zu verstehen. Gary war für mich, was Alkohol für meine Mutter gewesen war: eine Droge, ohne die ich nicht leben konnte. Bis zu dem Tag, an dem ich ihn rauswarf, hatte ich immer schreckliche Angst davor gehabt, dass er mich verlassen würde, und deshalb alles getan, was ich konnte, um ihn zufrieden zu stellen. Es war genau das Gleiche, was ich schon als Kind getan hatte – schwer arbeiten, ein gutes Mädchen sein, nichts für mich selbst verlangen und mich um Dinge kümmern, für die eigentlich jemand anders verantwortlich war.
Selbstaufopferung gehörte schon immer zu meinen Mustern. Und ich wusste eigentlich nie, wer ich war, wenn ich keine Schmerzen erleiden musste oder niemanden hatte, dem ich helfen konnte.»
Lisas feste Bindung an ihre Mutter, für die sie alle eigenen Bedürfnisse und Wünsche aufgab, war eine Art Vorbereitung auf spätere Liebesbeziehungen, die von Leiden statt von irgendeiner Form persönlicher Erfüllung geprägt waren. Sie hatte als Kind den folgenschweren Entschluss gefasst, jedes Problem im Leben ihrer Mutter durch die Kraft ihrer eigenen Liebe und Selbstlosigkeit zu beseitigen. Nach kurzer Zeit war ihr diese Entscheidung nicht mehr bewusst, aber ihr Verhalten wurde weiterhin davon bestimmt. Da sie überhaupt nicht wusste, wie sie für ihr eigenes Wohlergehen sorgen konnte, aber Expertin darin war, das Wohlergehen anderer zu fördern, ging sie Beziehungen ein, die ihr anscheinend die Möglichkeit boten, wieder einmal durch die Kraft ihrer Liebe das Leben eines anderen Menschen zu verschönern. Wie schon in ihrer Kindheit brachte sie das Scheitern ihrer Bemühungen nur dazu, sich noch mehr anzustrengen.
In Gary – mit seiner Sucht, seiner emotionalen Abhängigkeit und seiner Grausamkeit – vereinigten sich die schlimmsten Eigenschaften von Lisas Eltern. Und genau das trug zu seiner Anziehungskraft auf Lisa bei. Wenn die Beziehung, die wir zu unseren Eltern hatten, grundsätzlich fürsorglicher Natur war, wenn Zärtlichkeit, Interesse und Anerkennung angemessen ausgedrückt werden konnten, dann neigen wir als Erwachsene dazu, uns in der Gegenwart von Menschen wohlzufühlen, die in uns gleichartige Gefühle von Sicherheit, Wärme und positiver Selbsteinschätzung hervorrufen. Andererseits gehen wir Menschen, die unsere positiven Gefühle uns selbst gegenüber durch Neid oder ungerechtfertigte Kritik negativ beeinflussen, eher aus dem Weg. Ein solches Verhalten wirkt auf uns abschreckend.
Verhielten sich die Eltern uns gegenüber hingegen feindselig, überkritisch, grausam, manipulativ, arrogant, übermäßig abhängig oder auf andere Weise unangemessen, wird uns genau das «richtig» vorkommen, wenn wir jemanden kennenlernen, der uns – vielleicht auf sehr subtile Weise – dieselbe Haltung, dasselbe Verhalten entgegenbringt. Mit Menschen, die es uns
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