Wenn Frauen zu sehr lieben
zwischen den beiden Frauen war nie zerstört worden. Obwohl sie räumlich in beträchtlicher Distanz voneinander lebten, hatten doch Lisas größte Sorge und Zuneigung immer ihrer Mutter gegolten. Als Lisa erkannte, dass die Mutter sich tatsächlich änderte, dass sie ihre Alkoholsucht ohne Lisas Hilfe überwunden hatte, war ihre Reaktion von der Angst bestimmt, nicht mehr gebraucht zu werden. Daraufhin entwickelte sie eine neue, ebenfalls enge Beziehung zu einem anderen Menschen, der Anzeichen von Sucht zeigte. Im Anschluss an ihre Ehe hatte sie sich auf eher unverbindliche Kontakte mit Männern eingelassen – bis ihre Mutter zu trinken aufhörte. Sie «verliebte» sich in einen Abhängigen, als ihre Mutter sich an Mitglieder der Anonymen Alkoholiker wandte, um Hilfe und Unterstützung für ihren Entwöhnungsprozess zu erhalten. Lisa brauchte die Beziehung zu einem süchtigen Menschen, um sich «normal» fühlen zu können.
Sie begann von ihrer Beziehung zu Gary zu erzählen. Er zog schon nach kurzer Zeit bei ihr ein und stellte in den ersten Wochen ihres Zusammenlebens klar, wo seine Prioritäten lagen: Würde er jemals vor der Alternative stehen, sein restliches Geld entweder für Marihuana oder für die fällige Miete ausgeben zu müssen, so würde er sich mit Sicherheit für das «Gras» entscheiden. Lisa ließ sich davon nicht beirren. Sie glaubte fest daran, dass er sich ändern würde, dass er mit der Zeit mehr Wert auf ihr gemeinsames Leben legen und bereit sein würde, es zu verteidigen. Sie war sich sicher, dass sie ihn dazu bringen konnte, sie so zu lieben, wie sie ihn liebte.
Gary arbeitete nur selten, und wenn er es tat, blieb er seinen Grundsätzen treu und verwendete seinen Verdienst dafür, sich das beste und teuerste Marihuana zu kaufen. Zunächst rauchte Lisa mit, aber als sie feststellte, dass ihre Arbeit darunter litt, gab sie es auf. Schließlich sah sie es als ihre Aufgabe an, den Lebensunterhalt für beide zu verdienen, und sie nahm diese Verpflichtung ernst. Jedes Mal, wenn sie mit dem Gedanken spielte, sich endgültig von ihm zu trennen – er hatte wieder einmal Geld aus ihrer Tasche genommen, oder in ihrer Wohnung fand eine Party statt, wenn sie erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, oder er blieb die ganze Nacht weg –, hatte er eine große Tüte Lebensmittel gekauft oder wartete mit dem Essen auf sie oder erzählte ihr, dass er etwas Kokain nur für sie beide besorgt hatte. In solchen Momenten sagte sie sich, dass er sie offensichtlich doch liebte, und gab ihren Vorsatz bereitwillig auf.
Die Geschichten aus seiner Kindheit brachten sie zum Weinen. Lisa hatte großes Mitleid mit ihm und glaubte fest daran, sie müsse ihn nur genug lieben, um all das wettzumachen, was er hatte erleiden müssen. Sie dachte, sie dürfe ihm nie die Schuld geben, ihn nie für sein jetziges Verhalten verantwortlich machen, weil er als Kind so viel Schaden erlitten hatte, und sie vergaß ihre eigene leidvolle Vergangenheit, während sie sich darauf konzentrierte, ihm zu helfen.
Einmal bekamen sie Streit, weil Lisa sich weigerte, ihm einen Scheck zu geben, den ihr Vater ihr als Geburtstagsgeschenk gesandt hatte. Im Verlauf dieses Streites schlitzte er mit einem Messer alle Gemälde in der Wohnung auf.
Lisa setzte ihren Bericht fort. «Zu dem Zeitpunkt war ich schon so krank, dass ich tatsächlich dachte:
Es ist meine Schuld: Ich hätte ihn nicht so verärgern dürfen.
Ich übernahm noch immer die ganze Verantwortung; ich versuchte, etwas in Ordnung zu bringen, was sich nicht in Ordnung bringen ließ.
Der nächste Tag war ein Samstag. Gary hatte die Wohnung für eine Weile verlassen, und ich räumte weinend das Durcheinander auf. Ich musste alle Bilder wegwerfen, die ich in den letzten drei Jahren gemalt hatte. Um mich abzulenken, ließ ich den Fernseher laufen. Es wurde ein Interview mit einer Frau gesendet, die von ihrem Mann geschlagen worden war. Ihr Gesicht wurde nicht gezeigt, aber sie sprach darüber, wie ihr Leben ausgesehen hatte, und beschrieb ein paar besonders grässliche Szenen. Und dann sagte sie: ‹Ich dachte, es wäre gar nicht so schlimm, weil ich es doch immer noch aushalten konnte.›»
Lisa schüttelte langsam den Kopf. «Genau das tat ich: Ich zog keine Konsequenzen, weil ich es immer noch aushalten konnte. Als ich hörte, was diese Frau sagte, antwortete ich ihr laut: ‹Aber du verdienst etwas Besseres als das Schreckliche, das du gerade noch aushalten kannst!› Als ich
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