Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
Seite von Altpapier, das die Schwestern gesammelt und sortiert hatten. Zudem katalogisierte
ich Hunderte von Büchern in der Bibliothek des Mutterhauses, aus der die Schwestern sich ihre spirituelle Lektüre auswählten. Obwohl es eigentlich in der Bibliothek nur religiöse Bücher geben sollte, befanden sich darunter auch ein Wörterbuch der Biologie und Stolz und Vorurteil, die unter dem Oberbegriff »Spirituelles Leben« eingeordnet waren. Jane Eyre war unter »Muttergottes« eingeordnet, und ein Roman über Napoleon mit dem Titel Holy Week unter »Liturgie«.
Nach einer Weile entkam ich meiner Schreibtischarbeit, wurde aber wie ein Bauer auf dem Schachbrett verschoben und wechselte so oft meine Aufgaben, dass ich das Gefühl bekam, nirgendwo hinzugehören. Sobald ich mich eingearbeitet hatte, wurde ich versetzt. Meine häufigen Versetzungen schienen keinen Zweck zu verfolgen, doch ich dachte mir, man wollte mir auf diese Weise Einblick in unterschiedliche Aufgabengebiete verschaffen.
Ein paar Wochen lang wurde ich einem Tuberkulosezentrum mit Apotheke zugeteilt, wo die Leute mit Zuteilungskarten für Injektionen, Arzneien und Milch anstanden. Da ich ihre Sprache nicht sprach, konnte ich eigentlich nur die Rationen ausgeben und lächeln. Häufig legten die Leute ihre gefalteten Hände vors Gesicht und verbeugten sich in einer wortlosen Grußgeste. Dann schickte man mich als Englischlehrerin in die Schreibmaschinenklasse am Prem-Dan-Zentrum, das aus einer Gemeinschaft von fünfzig Junior-Postulantinnen und zwanzig Professen bestand, die dort lebten, sich um die Kinder kümmerten und für die Mädchen aus der Umgebung Schul- und Berufsschulunterricht anboten. Auf dem Gelände lagen überall Haufen
mit Kokosnussschalen, aus denen die Männer der benachbarten Slums Seile machten.
Dann wieder arbeitete ich an der Sealdah Railway Station Clinic, um die herum viele Menschen ums Überleben kämpften. Männer zogen Rikschas und fuhren auf Fahrrädern mit Karren, auf denen sie alle nur denkbaren Waren transportierten. Straßenhändler verkauften Obst, das sie auf dem Gehweg stapelten; Fleisch hing ungekühlt in Metzgerläden, deren Besitzer die Fliegen vertrieben, indem sie mit einem Stock wedelten, an dem Plastikfetzen befestigt waren. Hier unterhielten wir in der feuchtschwülen Luft eine Apotheke, fütterten Kleinkinder und verteilten rationierte Lebensmittel. Wir badeten die Straßenkinder und gaben ihnen Milch und proteinhaltiges Gebäck, danach brachten ihnen die Schwestern Lesen und Schreiben bei.
Durch das Metallgitter der Apotheke konnte ich das Gedränge der verzweifelten Menschen sehen, die darauf warteten, dass man sie wahrnahm. Viele der Frauen waren Muslime und trugen lange schwarze Kleider und Kopfbedeckungen, die nur ihre Augen erkennen ließen und unter denen man es vor Hitze sicherlich kaum aushalten konnte. Normalerweise hatten sie mehrere Kinder bei sich und machten einen erschöpften Eindruck. Es frustrierte mich, dass ich mich aufgrund der Sprachbarrieren nicht mit ihnen unterhalten und mehr über sie in Erfahrung bringen konnte. Hauptsächlich half ich dabei, Wunden zu versorgen und die Kinder zu füttern und zu baden.
Jeden Sonntag wurde ich in ein protestantisches Internat geschickt, ein riesiges Gebäude aus der Kolonialzeit mit
weitläufigen Gärten, die von einer hohen Mauer umgeben waren, um den katholischen Mädchen dort Religionsunterricht zu erteilen. Obwohl sie aus wohlhabenden Häusern kamen, hatten einige von ihnen emotionale Probleme und Ärger mit ihren Familien. Wenn wir mit der Trambahn dort hinfuhren, kamen meine Begleiterin und ich an bettelnden Kindern vorbei, welche die Müllhaufen nach Brauchbarem durchwühlten, während ihre Eltern auf dem Gehweg kochten und mit dem Wasser aus den Feuerhydranten Wäsche wuschen. Wieder war ich enttäuscht, nicht direkt mit den Armen auf der Straße zu arbeiten, eine Arbeit, die für mich wichtiger gewesen wäre, als Kindern der Mittelschicht Religionsunterricht zu erteilen. Jedes Mal, wenn wir auf dem Weg zur Schule durch den Park neben dem stattlichen Victoria Memorial kamen, ging mir durch den Kopf, was für eine kontrastreiche Stadt Kalkutta war. Den Mädchen in der Internatsschule hatte ich von den armen Kindern direkt vor ihren Türen erzählt, und eines Tages hatte eine Schülerin, die Schwierigste von allen, sich beim Frühstück eine Banane stibitzt und wartete damit am Schultor auf mich, um die Frucht einem der nackten Kleinkinder
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