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Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures

Titel: Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colette Livermore
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Verzicht auf mein eigenes Urteil. Man sagte mir, es läge an meinem Stolz.
    Mehrfach geriet ich in Konflikte mit meinen Vorgesetzten. An einem Festtag trafen sich die beiden Gemeinschaften der Junioren im unteren Refektorium zum Nachmittagstee. Mir fiel auf, dass ein Mann vor dem Fenster auf
dem Fußweg lag, er war schrecklich dünn, trug Lumpen und litt offensichtlich an Ruhr. Er war von Fliegen und Unrat umgeben. Weil mir der Kontrast zwischen dem Leben innerhalb und außerhalb unserer Mauern unangenehm war, fragte ich, ob wir dem Mann nicht helfen könnten, und machte mir dabei ärgerliche Selbstvorwürfe hinsichtlich meines Stolzes und angeblicher Selbstüberschätzung. Schließlich wurde er nach Kalighat gebracht, aber mir wurde erklärt, Park Street sei ein Ausbildungshaus, und würden wir nun damit anfangen, auf die Armen einzugehen, kämen die Menschen zu uns ans Tor und würden unsere Hilfe erwarten. Mir wollte keine Alternative zu meinem Tun einfallen, denn der geschwächte Mann wäre vor unserem Fenster gestorben, wenn wir nicht gehandelt hätten.
    In einer stürmischen Nacht ging ich im Dunkeln hoch aufs Dach, um allein zu sein. Im Eingang gegenüber sah ich einen ausgemergelten Mann, der in Fetzen auf seinen Hacken saß, Schutz suchte und so von den Blitzen angestrahlt wurde. Der Anblick dieses Mannes ließ mich nicht mehr los. Ich hatte gelobt, Menschen wie ihm zu helfen, aber auch gelobt, meinen Vorgesetzten zu gehorchen. Dies hätte kein Widerspruch sein dürfen, war es aber häufig.
    Wann immer Mutter in Kalkutta war, suchten wir das Mutterhaus auf, um mehrmals in der Woche ihre Anweisungen entgegenzunehmen. Ich machte Notizen unserer Treffen und tippte sie ab, damit sie fotokopiert und von den anderen Schwestern gelesen werden konnten. Bei einer dieser Gelegenheiten kehrten wir in Zweierreihen nach Hause zurück. Meine Partnerin und ich befanden uns in der Mitte der Gruppe, aber wir trennten uns von ihr, als wir
einen Mann neben dem Friedhof liegen sahen. Ausgetrocknet und geschwächt, wie er war, konnte er nicht aufstehen, außerdem war er nur in einen schmutzigen Fetzen gewickelt, der ihm beinahe vom Leib fiel. Als wir ihn fragten, ob er mit uns kommen wolle, fing er zu weinen an und berührte unsere Füße. Ich wich zurück und fragte mich: Für wen hält dieser Mann mich, dass er mir so die Füße berührt? Wir eilten zurück zum Mutterhaus, um seinen Transport nach Kalighat zu organisieren, kamen deswegen aber natürlich verspätet in der Park Street an.
    Bei unserem Eintreffen waren alle in spirituelle Lektüre vertieft, und wir steckten in Schwierigkeiten. Wir erklärten der Lehrerin der Tertianerinnen, was passiert war, aber sie wollte unsere Erklärungen nicht hören. »Warum schafft ihr als Einzige es nicht, rechtzeitig hier zu sein? Müsst ihr immer einen großen Auftritt haben? Haltet ihr euch für so viel mitfühlender als alle anderen? Ich weiß nicht, wie die Armen von Kalkutta überleben konnten, ehe ihr herkamt.«
    Die einzige Antwort konnte nur lauten: »Danke, Schwester.«
    Aber ich schrieb in mein Notizbuch: »Übersehe nicht die Armen, nur um keinen Ärger zu bekommen.« Ich wurde zurechtgewiesen, weil es mir an Demut mangelte, weil ich eingebildet und stolz war, eine Meinung hatte und alles bewertete, aber als meinen eigentlichen spirituellen Kampf empfand ich den, kein Feigling zu sein. Es war so viel einfacher, ein »Jasager« zu sein. Vor allem in der Ausbildung, wenn wir Schwestern streng korrigiert wurden und es immer wichtig war, nicht die Beherrschung zu verlieren.
    Jede Woche beichtete ich viele Vergehen, darunter auch,
dass es »mir an moralischer Courage fehlt und dies zu einem ernsthaften Verrat an Christus führen könnte. Ich habe nicht den Mut, den Ärger und die Missbilligung der anderen auszuhalten und mich deren Lächerlichkeit preiszugeben. Ich gebe es auf, den Armen helfen zu wollen.«
    Aber in mein Buch schrieb ich:
    1. Wenn ich Not sehe, werde ich mein Bestes tun, darauf zu reagieren, und mich nicht damit herausreden, nichts tun zu können.
    2. Ich werde jede notwendige Erlaubnis einholen, den Zeitrahmen einhalten und mich jeglicher Schelte stellen.
    3. Ich werde die Bettler, die Müllsammler, die Obdachlosen und die Straßenkinder kennenlernen und mich nicht von Anschuldigungen abhalten lassen.
    Die massenhafte Verteilung von Essen an die Armen war oftmals kein Ausdruck von Liebe. Der anonyme Arme stand in einer langen Schlange in der Hitze. Der Umgang mit

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