Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
»Mich dürstet«, und Mutter glaubte, sein Dürsten könne durch die Liebe und das Leid seiner Bräute, das heißt von uns, den Missionarinnen der Nächstenliebe, gestillt werden. Jesus hatte den Willen seines Vaters akzeptiert und sich ohne Hass einem demütigenden Tod unterworfen. Mit der Auferstehung hatte Christus das Böse absorbiert und es zum Guten gewendet. Indem er seine Feinde liebte, erreichte er für die gesamte Menschheit, dass sie die Chance auf das ewige Leben bekam. Wir nahmen Anteil am Leiden Christi, wir waren Teil seiner großen Erlösungstat.
Unser ganzes Leben als MN war eins der Wiedergutmachung. Gewissermaßen bestand der Zweck unseres Lebens darin, zu leiden und »Opfer seiner Liebe« zu werden, um an seiner Erlösungsarbeit teilzuhaben. Für Mutter war unsere Unterwerfung keine Knechtschaft, sondern der Weg, eine ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. Mutter wurde nicht müde, dies zu betonen, aber die Konzepte waren meiner
Denkweise so fremd, dass ich sie nur sehr langsam begreifen konnte. Ich spürte, dass Leiden ein unvermeidbarer Teil des Lebens war, aber so gut es ging erleichtert werden sollte. Mutter hingegen schätzte das Leiden als etwas Erlösendes und wählte deshalb mit Absicht den schweren Weg der Buße, um Anteil am Erlösungswerk Christi zu haben. Dies erklärte auch, warum ihr körperliche Buße und die stillschweigende Akzeptanz der Demütigung wichtig waren. Ich fand auch, dass Güte besser mit Wahrhaftigkeit und einer mutigen, sogar rebellischen Liebe definiert wurde. Indem man die leitende Selbstkontrolle aufgab und ungeprüft Passagen des religiösen Gesetzes und der kirchlichen Direktiven übernahm, konnten auch gute Menschen dazu gebracht werden, im Namen Gottes das Böse zu tun. So gab es einen biblischen Text, den zu studieren sie uns ermunterte, mit dem Ziel, uns ihm zu unterwerfen.
»Ihr Sklaven ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht. Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr um schlechter Taten willen geschlagen werdet und es geduldig ertragt? Aber wenn ihr um guter Taten willen leidet und das ertragt, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen … der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet.« (1.Petrus 2,18-23)
Mutter Teresa fand für ihre Ideale gute Unterstützung im Neuen Testament, und zu diesem Zeitpunkt meines Lebens
war es undenkbar für mich, in Erwägung zu ziehen, dass dieses Buch sich irren könnte.
Doch ihr Paradigma, ihre Logik des Glaubens unterschied sich sehr von meiner, und dieser unausweichliche Unterschied führte bei mir zum inneren Konflikt und zu Missverständnissen.
Mutter wurde vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Albanien geboren. Nach dem frühen Tod ihres Vaters hatte es ihre einst wohlhabende Familie schwer. Als sie dem Orden der Loreto-Schwestern beitrat, wurde sie nach Kalkutta geschickt, wo sie den ganzen Zweiten Weltkrieg über verbrachte und auch noch die darauffolgende blutige Teilung Indiens erlebte. Sie hatte mit eigenen Augen Hungersnot und Kriege auf mehreren Kontinenten erlebt, gesehen, wie Menschen bei Überschwemmungen und von Flutwellen weggespült wurden, doch ihr Glaube wurde für unerschütterlich gehalten. Während sie versuchte, einen Sinn in der Qual der Welt zu erkennen, kam sie zu dem Schluss, dass jedes Leid, wenn es mit der Passion Christi vereint wurde, ein Kraftquell des Guten war. In der Vereinigung mit Gott die Not zu akzeptieren, lehrte sie, war eine Chance, die nicht vergeudet werden durfte - dies waren Juwelen des spirituellen Lebens. Mutter sagte oft: »Lasst mich in Teile schneiden, aber lasst jedes Teil davon Ihm gehören.« Ohne Leid war unsere Arbeit, ihrer Auffassung nach, nicht Teil des Erlösungswerks Christi.
1969 gründete Mutter eine Organisation mit dem Namen Sick and Suffering Co-Workers für Menschen aus der ganzen Welt, die zu krank oder zu alt waren, um direkt mit ihr zu arbeiten, sich aber dennoch an ihrer Arbeit beteiligen
wollten. Diese Gruppe war Mutters Freundschaft mit Jacqueline de Decker erwachsen, einer Belgierin, die Mutter 1948 kennengelernt hatte und die sich an ihrer Arbeit in Indien beteiligen wollte, was ihr
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