Wenn ich dich gefunden habe
sie dort in diesem Korridor stand, während eine Wildfremde ihre Hände inspizierte. Isabelle Dupoint schien es nicht zu bemerken. Es war, als würde sie Dara kennen, und zwar schon lange.
»Bitte«, sagte Isabelle Dupoint, als sie schließlich Daras Hand losließ. »Kommt ’erein.«
Der Flur war dunkel und schmal und würde Mme Dupoint ernsthafte Schwierigkeiten bereiten, wenn sie noch mehr zunahm. Die Tür am Ende führte in ein helles, geräumiges Wohnzimmer, das Dara mit seinen zierlichen Möbeln und weichen Stoffen überraschte. Die Wände waren zartrosa gestrichen und mit Drucken französischer Impressionisten behängt – Monet, Renoir, Manet. Das hätte Tintin gefallen, denn es hätte seine Theorie bestätigt, dass der typische Franzose nur französische Kunst mochte. Dara hielt
nach Fotos von Mme Dupoint und ihrer Familie Ausschau, konnte aber keine entdecken.
Hinter ihr ertönten die schweren Schritte der Gastgeberin, die sich an den Möbeln im schmalen Flur vorbeizwängte. Sie betrat das Wohnzimmer, blieb jedoch nicht stehen, sondern bedeutete Dara und Stanley, ihr zu folgen, als sie das Zimmer durch eine zweite Tür verließ. Über einen weiteren, etwas breiteren Flur gelangten sie in eine kleine, glänzende Küche, in der eine Tasse, ein Teller, ein Löffel und ein Messer auf dem Abtropfbrett neben der Spüle trockneten. Sie durchquerten die Küche und fanden sich erneut vor einer Tür wieder. Dara konnte nicht fassen, was für einen Palast Mme Dupoint bewohnte. In Dublin waren viele Wohnungen so klein, dass man praktisch im Stehen schlafen musste.
Mme Dupoint blieb stehen, tastete ihre Kleider ab und brachte schließlich aus einer Rock- oder Jackentasche einen Schlüssel zum Vorschein. Sie steckte ihn ins Schloss und drehte ihn behände um, als hätte sie es schon unzählige Male getan. Die Tür schwang auf, und Dara hatte einen Kloß im Hals. Sie stellte sich flüchtig vor, wie es wäre, Mr. Flood dort drinnen stehen und lächeln zu sehen, wie er ihre Mutter angelächelt hatte, ehe er damals gegangen und nicht wiedergekommen war. Sie hörte ihn förmlich »Gut siehst du aus, Dara Flood« sagen. Doch der Raum lag im Dunkeln es war nichts zu sehen. Mme Dupoint beugte sich zur Seite und drückte auf einen Schalter, und Dara blinzelte, als das Licht anging.
Das Zimmer war winzig und enthielt nichts weiter als zwei Stühle und einen Klapptisch, auf dem ein Kartenspiel lag. Daneben standen eine Flasche Wein und zwei Gläser, bedeckt von einer dicken Staubschicht.
»’ier wir ’aben Karten gespielt«, sagte Mme Dupoint. Dara fragte sich, warum sie dafür ausgerechnet diese winzige, dunkle Kammer ausgewählt hatten, da fuhr Mme Dupoint fort: »Strip Pokär. ’abt ihr von diesem Spiel ge’ört?«
»Selbstverständlich«, antwortete Stanley in der nun folgenden Pause. »Das spielen wir in Irland die ganze Zeit.« Dara starrte ihn an. »Nicht wahr, Dara?«
»Ähm …«
»Also, natürlich nicht wir beide«, fügte Stanley hinzu und deutete auf Dara und sich selbst. »Aber mein Bruder Lorcan zum Beispiel. Jedenfalls behauptet er das. Es ist sogar sein Lieblingsspiel.«
Mme Dupoint lächelte Stanley an, als hätte sie ihn eben erst bemerkt.
»Sind Sie Daras Lieb’abär?«, erkundigte sie sich in demselben sachlichen Tonfall, in dem man über das Wetter redet.
»Äh, nein, nein, bin ich nicht. Dara ist …«
Dara musterte ihn besorgt. Stanley hatte die Angewohnheit, weit mehr als nötig zu sagen, wenn er nervös war.
»Dara ist eine Freundin von mir«, sagte Stanley und sah zu Dara, die buschigen Augenbrauen fragend hochgezogen.
Mme Dupoint drehte sich zu Dara um. »Ja«, sagte Dara viel lauter als beabsichtigt und setzte etwas leiser hinzu: »Stanley und ich sind Freunde.«
Dara war klar, dass sie nicht zu den Leuten gehörte, die schnell Freundschaften schlossen. Anya hatte ihr erklärt, das liege an ihrer Bindungsstörung, die auf die Tatsache zurückzuführen war, dass sie von ihrem Vater verlassen worden war. So, wie Anya das sagte, klang es absolut einleuchtend und sogar beinahe so, als wäre Daras Bindungsstörung
etwas Nützliches, etwas, das sie sich gezielt erarbeitet hatte. Anya nickte oft ermutigend und tätschelte ihr die Hand, wenn sie darüber sprach.
»Er is’ sähr attraktiv«, flüsterte Mme Dupoint deutlich vernehmbar, und zwar nicht nur für Stanley, sondern vermutlich auch für die Nachbarn, obwohl die Wände hier bedeutend solider wirkten, als die geradezu lächerlich
Weitere Kostenlose Bücher