Wenn ich dich gefunden habe
sich nach oben vorarbeiteten. Gelegentlich drangen Geräusche an ihr Ohr. Ein weinendes Baby, Türenknallen, das Geklapper von Töpfen und Pfannen, die gedämpften Klänge eines alten, rührseligen Liedes, vermutlich aus dem Radio. Ein Paar, das sich zankte, ein Mann, der sang, das dumpfe Rumpeln einer Waschmaschine. Und fast ganz oben eine leise Melodie, gespielt auf einer Violine.
87.
88.
89.
Dara ging weiter. Sie hörte Stanley hinter sich atmen, rascher jetzt. Ihre Schritte, im Gleichtakt, waren auf den ausgetretenen Holzstufen kaum zu hören. Auf jedem zweiten Treppenabsatz schien durch ein kleines Fenster hoch oben in der Wand die Sonne herein. Dara hätte sich gern in eines der sonnigen Quadrate gestellt, damit sich das Licht über sie ergießen und die Strahlen ihren Körper wärmen konnten, aber sie blieb nicht stehen.
91.
92.
93.
Sie sah die Tür bereits, als sie die letzte Treppe in Angriff nahm. Eine Tür wie alle anderen, mit einem Türspion, der sich wie ein schielendes Glasauge aus dem schweren, dunklen Holz hervorwölbte. Auf der obersten Stufe blieb sie so unvermittelt stehen, dass Stanley mit ihr zusammenstieß.
»Tut mir leid«, flüsterte er.
»Kein Problem«, flüsterte sie zurück und machte einen Schritt nach vorn, um ihm Platz zu machen.
Stanley deutete auf die Tür. »Wir sind da«, flüsterte er.
»Warum flüstern Sie?«, fragte Dara.
»Weiß ich nicht. Warum flüstern Sie denn?«, fragte Stanley zurück.
»Weiß ich auch nicht«, gab sie zu, und dann lachten sie wie zwei Leute, die versuchen, nicht zu lachen.
Stanley hörte es zuerst. »Pssst!«, zischte er.
Dara sah zur Tür, hinter der das Klappern von Absätzen auf Bodenfliesen und das Klimpern eines Schlüsselbundes zu hören waren. Die Schritte näherten sich, ein Riegel wurde
zurückgeschoben, ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und umgedreht. Dann schwang die Tür auf, völlig geräuschlos nach all dem Geklapper und Geklimper, und im Türrahmen erschien eine Frau. Möglicherweise die voluminöseste Frau, die Dara je gesehen hatte. Sie war riesig. Nicht nur groß, sondern auch breit. Sie musste sich ein wenig zur Seite drehen, um durch die Tür zu passen.
Es war schwer zu sagen, ob es sich um eine Französin handelte. Nicht einmal Tintin hätte sie als typische Französin bezeichnet. Sie trug mehrere Kleidungsstücke übereinander, alle in diversen Grau- und Schwarztönen, die sie noch dicker aussehen ließen, falls das überhaupt möglich war. Selbst ihr dichtes Haar wirkte imposant – schwarz und wallend umrahmte es ihr Gesicht und fiel in wirren Strähnen auf ihre gepolsterten Schultern wie ein lange vernachlässigter Garten. Ihre Haut war blass, der Lack auf ihren Fingernägeln abgesplittert. Sie trug Ringe an allen Fingern, das fleckige Metall schnitt ihr ins Fleisch. Ein goldenes Medaillon, halb versunken in den Tiefen ihres Dekolletees, glänzte, als es vom Lichtschein erfasst wurde.
Sie blieb stehen, als sie die beiden sah.
Einen Augenblick herrschte Schweigen.
Dara hatte den Mund geöffnet, als wäre sie im Begriff, etwas zu sagen, gab aber keinen Ton von sich.
Stanley trat einen Schritt nach vorn. »Ähm, bon-schur«, sagte er zögernd und streckte der Frau die Hand hin. Sie betrachtete sie, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte.
»Äh, nus somms … äh …« Stanley fischte einen Zettel aus der hinteren Hosentasche und warf einen Blick darauf. »Anschantee de vus … äh … roncontree.«
Obwohl sein Französisch schon wegen seines starken
Dubliner Akzents kaum zu verstehen war, empfand Dara eine tiefe Dankbarkeit, weil er sich die Mühe gemacht hatte, ein paar Begrüßungsformeln für diesen Augenblick aufzuschreiben, nur für den Fall, dass Dara womöglich doch nichts einfallen würde.
Die Frau antwortete nicht. Sie starrte Dara an, als wäre sie ein kompliziertes Kochrezept. Dara, die sich unter ihrem prüfenden Blick unwohl fühlte, trat von einem Fuß auf den anderen und überlegte verzweifelt, was sie sagen sollte. Ihr fiel noch immer nichts ein.
»Du bist die Tochtär von Eugene Flood«, stellte die Frau fest. Es war keine Frage. Ihre Stimme klang überraschend leise. Weich und lieblich.
»Ich bin Dara Flood.« Dara hielt Isabelle die Hand hin. Diese ergriff sie, schüttelte sie jedoch nicht, sondern betrachtete sie, ließ die Finger über die Handfläche gleiten.
»Du ’ast die ’ände deines Vatärs, Dara.« Sie lächelte.
Dara fühlte sich etwas unbehaglich, wie
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