Wenn ich dich gefunden habe
beiden spielten schweigend, doch für Dara hatte es den Anschein, als wäre es ein beredtes Schweigen. Eines, das von jahrelanger Vertrautheit zeugte und fast wie eine Unterhaltung war.
»Dara?«, sagte Stanley nach einer Weile.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragte Dara hastig und deutete auf ein Café in der Nähe.
»Nun, ich … Natürlich können wir uns einen Kaffee gönnen, aber … wollen wir nicht lieber weitergehen? Wir sind fast da.«
»Nur einen ganz kleinen. Einen Espresso für jeden. Den haben wir im Handumdrehen ausgetrunken.« Dara machte sich auf den Weg, ohne Stanleys Antwort abzuwarten. Das Café war eher ein Kiosk mit einer Markise und ein paar ausgeblichenen Sonnenschirmen, unter denen einige Plastiktische und -stühle standen. Dara stellte erleichtert fest, dass sich eine lange Schlange gebildet hatte, die sich nur langsam vorwärtsbewegte.
Als sie zu der Bank zurückkehrte, verging sich gerade eines der Schoßhündchen an Stanleys Unterschenkel, eine Angewohnheit, die Dara auch von anderen Hunden kannte. Der Anblick erheiterte sie, zumal Stanley keine Anstalten machte, den Hund einfach abzuschütteln, wohl, weil er Angst hatte, das zierliche Tier könnte sich verletzen. Er versuchte stattdessen, ihm gut zuzureden.
Dara stellte die Becher ab, ging neben Stanley in die
Hocke und ergriff die Vorderpfoten des Hundes, um ihre eiserne Umklammerung zu lösen. Nachdem sie ihm auf Französisch Knochen und Stöckchen versprochen und einige Schnalzlaute tief hinten in der Kehle von sich gegeben hatte, ließ er – nur sehr widerstrebend – von Stanleys Bein ab und humpelte bellend von dannen. Die Größe seiner leuchtend rosaroten Erektion stand in keinem Verhältnis zu dem winzigen Hundekörper.
»Ich wirke auf Hunde einfach unwiderstehlich«, scherzte Stanley, um seine Verlegenheit zu überspielen.
Dara tat, als würde sie seine Beine betrachten. »Sie haben aber auch sehr wohlgeformte Unterschenkel.«
Er nickte, schlug die Beine übereinander und nahm sich einen Espresso. »Sie sind der reinste Fluch.«
Der Becher wurde viel zu schnell leer, also rauchte Dara eine Zigarette. Und dann noch eine. Sie ließ sich Zeit, rauchte, bis nur noch der Filter übrig war, nahm winzige Züge, damit das Papier nicht zu schnell verbrannte. Trotzdem waren die Zigaretten irgendwann geraucht, der Espresso ausgetrunken, und die Gänseblümchenkette, die sie geflochten hatte, fertiggestellt.
»Dara?«, sagte Stanley. »Wir sollten gehen.«
Dara wollten partout keine weiteren Verzögerungstaktiken mehr einfallen. »Ich weiß«, sagte sie und hob den Kopf. Stanley stand vor ihr und blickte auf sie hinunter. Er lächelte sein langsames, trauriges Lächeln, als würde er alles verstehen. Als müsste sie ihm nichts erklären.
Dara versuchte es trotzdem. »Ich … Ich weiß einfach nicht, was ich ihm sagen soll. Wo ich anfangen soll. Was, wenn er tatsächlich da ist?«
»Das bezweifle ich. Aber vielleicht weiß Isabelle Dupoint, wo er ist.«
»Das meine ich ja. Was ist, wenn wir ihn finden?«
»Das wäre doch gut, nicht?«
Dara schüttelte den Kopf und sagte »Ja«. Eine verwirrende Antwort, aber Stanley ging nicht weiter darauf ein. »Es ist nur … Er ist ein Fremder für mich. Er ist zwar mein Vater, aber ich kenne ihn nicht. Was soll ich zu ihm sagen?«
»Ihnen fällt bestimmt etwas ein«, sagte Stanley, und sein ruhiger Tonfall wirkte irgendwie überzeugend auf Dara.
Er streckte ihr die Hand hin, und sie ergriff sie und ließ sich hochziehen.
»Bereit?«, fragte er.
»Bereit«, antwortete sie.
45
Der Wohnblock hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die Eingangstür öffnete sich mit einem langgezogenen Stöhnen, als sie sie aufdrückten. In dem engen Korridor, der sich dahinter auftat, hingen ein Münztelefon und mehrere Reihen Briefkästen, in denen büschelweise Prospekte steckten. Die schmalen Klingelschilder an der Wand waren allesamt handbeschriftet. Der Knopf, auf den Dara drückte, gab keinen Ton von sich. Nach einer Weile wechselte sie einen Blick mit Stanley. Dieser nickte, und sie wandten sich dem Aufzug zu.
Isabelle Dupoint wohnte im elften Stock, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn der Aufzug funktioniert hätte. Doch der hatte offenbar schon vor langer Zeit den Geist aufgegeben. Sie machten sich an den Aufstieg.
Jede Treppe hatte zehn Stufen. Dara zählte sie. Zehn Stockwerke. Machte insgesamt einhundert Stufen. Sie konzentrierte sich auf das Zählen, während sie
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