Wenn ich dich gefunden habe
wohlweislich für sich. Sissy ließ ihn ohnehin nicht zu Wort kommen. »Mach ihr Komplimente. Schieß Fotos von ihr. Geh mit ihr spazieren oder ins Kino. Lies ihr etwas vor. Zeig ihr die Stadt und erzähl ihr ein paar interessante Anekdoten. Aber keine zu ausführlichen, sie soll sich ja nicht zu Tode langweilen.« Als Sissy abbrach, um Luft zu holen, nutzte Stanley die Gelegenheit.
»Danke, Sissy. Das … hilft mir sehr weiter. Jedenfalls für den Anfang.«
»Dann wirst du es also tun?«
»Na ja, nicht alles. Wir sind ja nur eineinhalb Tage hier.«
»Am wichtigsten ist es, sie aus ihrem Zimmer zu locken.«
»Mach ich«, sagte Stanley. »Tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit gestört habe.«
»Kein Problem. Das klingt ja wirklich nach einer Art Notfall. Und ich mag Dara. Seltsamerweise.«
Stanley nickte. Es konnte dauern, bis Sissy mit jemandem warm wurde. Wenn es dann endlich so weit war, fragte sie sich oft, warum sie sich so lange Zeit gelassen hatte.
»Du bist eben ein Spätzünder«, sagte Stanley oft zu ihr.
»Eher eine Zimtzicke«, sagte Sissy dann.
Stanley legte auf und erhob sich, ehe ihn womöglich der Mut verließ. Er ging, nein, marschierte ins Bad, das sehr elegant eingerichtet war. Die Löwenfußbadewanne bot Platz genug für zwei – oder auch drei – Personen. Tja, das war eben Paris. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, putzte sich die Zähne, bis sein Zahnfleisch blutete und benetzte seine Stirnfransen, um sie zu bändigen. Dann betrachtete er sich im Spiegel, versuchte, sich mit fremden Augen zu sehen. Er straffte die Schultern und setzte probehalber eine entschlossene Miene auf. Nein. Er sah aus wie ein Schauspieler aus einer dieser grauenhaften Soaps, die Sissy so gern guckte. Reich und schön oder so. Also lieber ein neutraler Gesichtsausdruck. Oder ein Lächeln? Nein. Die Lücke zwischen den Schneidezähnen ließ ihn knabenhaft wirken. Das hatte Cora einmal gesagt, und völlig zu Recht. Der Spiegel zeigte einen kleinen Mann mit einem knabenhaften Lächeln, mehr nicht. Stanley gab das Lächeln auf und versuchte, den Mann in sich zu aktivieren.
»Dara!«, sagte er, und kam sich ein bisschen verrückt vor in diesem riesigen, leeren Badezimmer. »Wir gehen jetzt ins Museum, und damit basta.« Er wartete ihre Antwort ab. Schüttelte den Kopf. Versuchte es erneut. »Dara, wir wussten doch beide, dass die Chancen mehr als gering sind. Also, lassen Sie uns doch einfach das Beste daraus machen, wo wir schon mal hier sind. Ich lade Sie zum Essen ein.« Nein. Viel zu besitzergreifend.
»Dara, wir sollten uns auf den Weg zum Eiffelturm machen, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit dort sind. Sie wollten doch ein Foto für Miss Pettigrew.« Genau. Das war’s. Das klang überzeugend.
Der Hemdkragen scheuerte, und Stanley öffnete den obersten Knopf. Schon besser. Viel besser sogar. Er öffnete
einen weiteren Knopf und genoss den kühlen Lufthauch, der über seine Brust strich, aber rein optisch wirkte das eine Spur zu lässig, zu gleichgültig. Zu nonchalant. Er schloss den zweiten Knopf wieder. Er wollte Dara nicht das Gefühl vermitteln, dass er die ganze Angelegenheit nicht ernst nahm. Weil er sie nämlich sehr ernst nahm. Er hatte auf dem ganzen Weg zurück zum Hotel ihre Enttäuschung gespürt, ihren Kummer, ihre Ratlosigkeit.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns nicht unterhalten?« , hatte sie gefragt, ohne ihn anzusehen.
»Aber nein, natürlich nicht.« Sie musste auch nichts sagen. Aus ihren hochgezogenen Schultern, den leeren Augen, den roten Flecken, die ihr sonst so blasses Gesicht überzogen, sprach deutlich die Niedergeschlagenheit. Und vielleicht auch die Wut, obwohl Stanley das dumpfe Gefühl hatte, dass Dara selten Wut empfand. Vielleicht war ja genau das das Problem. Und nicht nur in Daras Fall.
Er wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab, schnappte sich seinen Zimmerschlüssel und ging zur Tür.
47
Dara lag auf dem Bett und zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Eigentlich war es eher ein Hämmern als ein Klopfen. Es klang fast, als würde jemand mit der flachen Hand an die Tür trommeln, statt mit den Fingerknöcheln. Dara dachte schon die ganze Zeit darüber nach, was sie ihrer Mutter und ihrer Schwester sagen sollte. Sie hatte versucht, zum Telefon zu greifen und sie anzurufen. Und sie hatte versucht zu weinen. Vielleicht würde das ja den Druck, der auf ihrer Brust lastete, lösen. Einen Schlussstrich unter dieses sinnlose
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