Wenn ich dich gefunden habe
war. »Sie ist im Bad zusammengebrochen. Ihr war übel. Ich … Ich hatte keine Zeit, dich anzurufen. Ich muss jetzt los.« Während sie sprach, stopfte sie weiter Kleidung in die Tüte. Ihr Blick war glasig. Verloren. Als hätte sie vergessen, wo sie war und wie sie dorthin gelangt war.
Dara entwand ihr sanft die Tüte. »Geh nur, ich mache das. Sie warten schon auf dich.«
Mrs. Flood nickte, dann drehte sie sich schweigend um und ging hinaus.
»Ich komme dann mit dem Auto nach, okay?«, rief Dara ihr hinterher.
»Fahr vorsichtig«, ermahnte Mrs. Flood sie, dann eilte sie die Treppe hinunter und zur Tür hinaus.
Fidelma steht am Fußende meines Bettes. »Gibt es jemanden …?« Sie bricht ab. Sie sieht irgendwie anders aus. Fülliger.
Weicher. Die Haut über ihrer Oberlippe ist rot und fleckig. Ich tippe auf Enthaarungsstreifen. Die Dinger sind die reinsten Folterinstrumente. Ich weiß nicht, wie viele Frauen ich schon davor gewarnt habe. Ich richte mich ein wenig im Bett auf.
»Was?«, brumme ich, und sie entspannt sich sichtlich. Ich bin immer noch ein griesgrämiges altes Aas. Sie kann ihre Frage stellen. Sie tritt näher und zieht die Bettlaken glatt, obwohl es nicht nötig ist. Sie sind so steif und gestärkt wie an dem Tag, an dem ich herkam.
»Möchten Sie, dass ich jemanden anrufe?« Ihr Hals ist faltig, aber die Haut dort ist weich. Wenn ich die Hand ausstrecke, könnte ich sie berühren. Ihr Lächeln ist hoffnungsvoll, wie die Flamme einer Kerze, ehe sie flackernd verlischt.
»Nein«, sage ich, und meine Stimme klingt ruhig. Beinahe kräftig. Wie die Stimme des Mannes, der ich einmal war, wem auch immer das je etwas Gutes gebracht haben sollte.
Allmählich sehe ich sie näher kommen, die letzte Station auf meinem Weg. Ich hab lange darauf gewartet. Hab mich manchmal danach gesehnt, wenn mir die Chemo zu sehr zu schaffen machte.
Doch jetzt, wo das Ende naht und ich es deutlich erkennen kann, möchte am liebsten beide Augen schließen.
Das jähe Erwachen hinauszögern.
Ich wünsche mir eine Weichenstörung, Blätter auf den Schienen, einen Fahrer, der nicht zu seiner Schicht erschienen ist.
»Sind Sie sicher, Mr. Waters?« Ihre Stimme ist federweich.
Ich bin nahe daran, es ihr zu sagen. Ihr meinen richtigen
Namen zu nennen. Und eine Nummer, die sie anrufen kann. Ich weiß sie noch, die Nummer.
Aber ich schüttle den Kopf und schließe die Augen. Ich spüre ihren Atem, als sie seufzt. Ihre Schritte entfernen sich und verklingen.
60
Irgendwann wurde aus der Nacht früher Morgen. Angel wurde durch das Krankenhaus geschoben wie ein übrig gebliebenes Gepäckstück, das niemand abgeholt hatte. Man nahm ihr Blut ab, untersuchte sie, machte Röntgenbilder. Schließlich stellte man sie neben dem Dialysegerät ab, und Dara setzte sich zu ihr. Das vertraute Summen des Geräts wirkte tröstlich auf sie. Angel lag reglos in ihrem Bett, bei dem auf beiden Seiten die Gitter hochgeklappt waren.
»Sie schläft jetzt«, sagte die Krankenschwester lächelnd und drückte Dara die Schulter. »Das ist gut. Sie muss sich ausruhen.«
Mrs. Flood kam mit zwei Plastikbechern herein. Ihr Lächeln war wässrig und grau, genau wie der Tee, der nach Geschirrspülmittel roch. Dara konnte ihn nicht trinken.
»Es tut mir leid, Mam«, flüsterte sie.
»Schon gut. Es wird alles gut.« Mrs. Flood konzentrierte sich auf ihren Tee.
»Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen.«
»Es war doch nur eine halbe Stunde.«
»Ich hätte da sein müssen.«
Mrs. Flood sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.
Eine »Progression«. So nannte es der Arzt, als er endlich kam. »Der hohe Blutdruck ist nicht ungewöhnlich unter
diesen Umständen«, fügte er rasch hinzu, als würde dieser Zusatz irgendetwas ändern. Tat er aber nicht.
Dara stellte sich vor, wie Angel bei Mrs. Floods Rückkehr zusammengesunken auf dem Badezimmerboden gelegen hatte. Manche Patienten gingen jahrelang zur Dialyse, ehe eine solche Progression eintrat. Angel gehörte nicht dazu, wie es schien.
Mrs. Flood wollte noch einen Tee. Der Weg von der Nierenstation zur Cafeteria verlangte Dara, ihren Muskeln, Bändern und Sehnen, schier unmenschliche Kräfte ab. Am oberen Treppenabsatz musste sie kurz im harten Neonlicht des Korridors innehalten, um wieder zu Atem zu kommen. Die Tränen zurückzuhalten war nicht nötig – sie hatte keine. Es war der Zorn, den sie unterdrücken musste. Die Wut, die in ihr brodelte. Wut darüber, wie ungerecht und gemein das
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