Wenn ich dich gefunden habe
hatte sie das Gefühl, schlafen zu können.
»Ist wohl spät geworden gestern, wie?«, fragte Tintin.
»Was?«
»Na, gestern war Donnerstag, da gehst du doch immer mit Angel aus, nicht?«
Das stimmte, und es war der Grund dafür, dass der Donnerstag Daras liebster Wochentag war. Wenn Mrs. Flood am Donnerstagabend arbeiten musste, blieben sie auch mal zu Hause. Das war Dara noch lieber, denn dann konnte sie Angels Leibgerichte kochen, und sie mussten nicht mit hochnäsigen Kellnerinnen darüber diskutieren, was Angel essen durfte und was nicht. Angel dagegen zog es vor, auswärts zu essen. Vorher machten sie sich schick. Zumindest Angel, die gern Kleider trug. Bunte, ärmellose, tief ausgeschnittene Kleider, in denen man ihre Narben sah. Die an ihrem rechten Arm, wo beim Anlegen des Dialyse-Shunts etwas schiefgegangen war. Und die am Halsansatz, wo man einen Venenkatheter angelegt hatte, um die Zeit zu überbrücken, bis der permanente Shunt in ihrem linken Arm benutzbar war. Dara fand es furchtbar, wie die Leute auf die Narben starrten. Angel lachte und behauptete, sie würden auf ihren Busen glotzen. Die Narben waren mit
der Zeit verblasst; von Dunkelrot zu Rosa, und mittlerweile waren sie silbrig weiß und von Fältchen überzogen, wie die Haut eines alten Menschen, der schon viel durchgemacht hat. Und dann war da noch der Shunt im linken Arm, der von weiter weg kaum auszumachen war. Erst bei genauerer Betrachtung konnte man sehen, wie das Blut pulsierte, das durch das unter der Haut versteckte Röhrchen gepumpt wurde.
Dara schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht ausgegangen«, sagte sie bedächtig.
»Oh Gott!« Tintin wirbelte auf dem Drehstuhl herum. Er presste sich beide Hände auf den Mund. »Ich meine, ich wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, weil du keinen Ton über meine neue Frisur gesagt hast, die mich ein Vermögen gekostet hat; ich war nämlich bei Brown Sugar. Außerdem hast du mich nicht dafür gerügt, dass ich eine ordentliche Portion von der Pfirsich-Mazurka verdrückt habe, die Anya mitgebracht hat. Und du hast dich nicht für die Tatsache interessiert, dass ich deinen Freund und seine Haushälterin gesichtet habe.«
»Er ist nicht mein Freund«, korrigierte ihn Dara, »wir treffen uns nur gelegentlich, wie du weißt.«
»Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass etwas im Busch ist, und du wirst Tintin jetzt alles haarklein erzählen.«
»Okay.« Dara reichte Jack Nickerchen an Tintin weiter, ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, und erhob sich. »Können wir draußen reden?«
»Oje, so schlimm?« Tintin folgte ihr über die Treppe und zog fröstelnd seine dünne Cordsamtjacke enger.
Dara setzte sich auf einen riesigen Sack Hundefutter und lehnte sich an die mit Kieselrauputz überzogene Wand,
und obwohl sie recht unbequem und wacklig saß und die Wand kalt und rau war, sackte ihr Körper sogleich in sich zusammen und ihre Lider wurden schwer. Sie schob eine Hand in die Jackentasche und brachte die Packung Silk Cut zum Vorschein, die sie am Vortag gekauft hatte.
»Grundgütiger«, flüsterte Tintin. Er drehte den Kopf zur Seite, legte die Hände um den Mund und brüllte »Kippenalaaarm!« , als hätte Dara eine Handgranate gezündet. Dann griff er blitzschnell nach den Zigaretten, doch Dara war schneller. Sie zog die Hand zurück, wobei sie die Wand streifte, und der scharfe Schmerz war genau das, was sie brauchte, um aus ihrer Lethargie gerissen zu werden. Sie sprang auf und spurtete los; ihre Hand umklammerte mit eisernem Griff die Zigarettenschachtel.
Dara konnte schneller laufen als Tintin, vor allem heute, wo er nach der gestrigen Marathon-Fernseh-Session etwas schwerfällig war. Sie hätte es auch geschafft, wäre da nicht Anya gewesen, die die Szene durch das winzige Fenster über ihrem Schreibtisch (von Tintin Eckbüro genannt) beobachtet hatte. Anya kreischte »ABRIEGÄÄÄLN!« und stürmte geistesgegenwärtig aus dem Container und über die Treppe hinunter; eine wahre Meisterleistung in Anbetracht ihrer Aufmachung. Sie trug hochhackige Riemchensandalen und ein kurzes, enges Kleid, das farblich exakt auf ihre rosarot lackierten Zehennägel abgestimmt war und eher auf eine Cocktailparty gepasst hätte als hierher. Doch weder die Kürze noch die Enge des Kleides konnten Anya bremsen. Ihre umfangreiche Armreifen-Sammlung klimperte beim Laufen, ihre langen Ohrringe baumelten heftig hin und her. Sie baute sich in dem schmalen Durchgang zwischen den Hundezwingern auf
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