Wenn ich dich gefunden habe
befreien, wenngleich es nicht ohne weitere Schrammen und blaue Flecken abging. Er suchte sich einen Stock und humpelte aus dem Wäldchen, über die Straße und durch eine schmale Gasse. Dann musste er noch einen kleinen Graben überqueren, ehe er in seinen Lieferwagen steigen konnte, den er hinter einer stillgelegten Tankstelle geparkt hatte.
Auf dem Nachhauseweg ließ er den Rückspiegel nicht aus den Augen. Die Nikon lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Zu Hause begab er sich ins Bad, um seine Wunden mit Watte, Desinfektionsmittel und einer verbogenen, praktisch leeren Tube Sportsalbe zu versorgen, so gut es ging. Erst dann fiel ihm der Anruf wieder ein. Es war nicht das erste Mal, dass er vergessen hatte, während einer Beschattung sein Handy auszuschalten, aber es würde definitiv das letzte Mal sein, schwor er sich. Andererseits hatte er sich das schon mehrere Male geschworen.
Die Nachricht auf seiner Mobilbox war kaum zu verstehen, denn im Hintergrund kläffte unablässig ein Hund. Die Anruferin klang jung und zurückhaltend. »Hallo, hier ist Dara Flood. Ich habe Ihre Nummer von Miss Pettigrew.«
Der Name sagte Stanley nichts.
»Sie ist eine Freundin von Ita.«
Welche Ita?
»Soweit ich weiß, haben Sie vor einiger Zeit Ita O’Brians Kater Spinach gefunden.«
Ah ja, das Geheimnis des verschwundenen Perserkaters, das im Grunde kein großes Geheimnis gewesen war, sondern eher eine Übung im Baumklettern (und nicht die letzte).
»Also, Folgendes … Ich habe mich gefragt, ob Sie … Moment bitte … Edward, hör auf! Ich telefoniere! So, Verzeihung. Also, könnten Sie mich bitte zurückrufen? Ich heiße Dara Flood … äh, hab ich das bereits erwähnt? Tut mir leid. Meine Nummer ist … Bitte, Edward, benimm dich! Du kriegst gleich ein Hundeplätzchen, okay?«
Das Gekläffe wurde lauter, und Stanley hielt sich das Telefon auf Armeslänge vom Ohr entfernt. Er hörte einen dumpfen Plumps, gefolgt von einem Krachen und etwas Geraschel, dann brach die Verbindung ab. Hm. Das klang ganz danach, als müsste er einen entlaufenen Hund aufspüren. Er schien sich unter Haustierbesitzern allmählich einen Ruf zu erarbeiten. Egal, in Zeiten der Rezession durfte er nicht wählerisch sein. Er selbst wäre verzweifelt, wenn Clouseau plötzlich verschwinden würde. Wobei das bei einem Hund seiner Größe ohnehin eher unwahrscheinlich war.
Stanley sah auf die Uhr. Mitternacht. Zu spät für einen Rückruf? Vielleicht. Aber er ließ seine Klienten nicht gern warten. Dara Flood hatte es nicht geschafft, ihre Nummer zu nennen, also rief er die Liste der entgangenen Anrufe auf.
Es klingelte fünfmal, ehe sich ihr Anrufbeantworter einschaltete.
»Hallo, hier ist … ähm … Dara Flood … Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht …« (Hundegebell, hastige Schritte, Türenknallen) »Ich … Ich rufe so schnell wie möglich zurück … Vielleicht auch erst morgen, falls ich Ihre Nachricht erst spätabends abgehört habe. Vielen Dank für Ihren Anruf. Dies ist der Anschluss von Dara Flood. Danke.«
Beim Klang von Dara Floods Stimme musste Stanley unwillkürlich an Cora denken, und sei es nur deshalb, weil der Unterschied nicht größer hätte sein können. Sie klang heiser, rau und besorgt. Cora dagegen sprach mit hoher, hauchiger, unbekümmerter Stimme. Stanley seufzte und fragte sich, wann er wohl aufhören würde, an Cora zu denken. Immerhin, er hatte das Gefühl, dass es etwas besser wurde. Dass er es allmählich verwunden hatte. Cora und Cormac waren jetzt seit fünfzehn Monaten zusammen.
»Ein Jahr und ein Tag, Stanley«, hatte Sissy ihm gesagt. So lange dauerte es angeblich, bis man über eine alte Liebe hinweg war. Ein Jahr und ein Tag. Er war spät dran.
Er humpelte aus dem Bad und quälte sich die Treppe hinunter. In der Küche schenkte er sich einen Fingerbreit Whiskey ein, dann zog er den Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und klappte ihn auf. Das Foto war so groß wie ein Passbild und steckte in einem Heftchen Briefmarken im hintersten Fach, dort, wo das Futter eingerissen war. Es war vor zwei Jahren zu Weihnachten entstanden, in einem Fotoautomaten in der Stadt, und es zeigte Stanley dämlich grinsend und sichtlich verliebt bis über beide Ohren. Er war ein williges Opfer gewesen. Ein verdammter Trottel. Er hatte die Arme um Cora geschlungen, die vor ihm auf dem Hocker saß und mit einem ihrer grünen Augen direkt in die Linse blickte. Das andere
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