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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ciara Geraghty
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die Augen zu und ließ die Handtasche fallen.
    Der verlotterte Eindruck besserte sich auch nach oben hin nicht. Immerhin hatte man die Tür zu Stanley Flinters Büro kürzlich gestrichen. Sie war nur angelehnt, doch Dara klopfte trotzdem an.
    »Herein.« Es war dieselbe Stimme wie am Telefon. Leise, zurückhaltend. Sie drückte die Tür auf und trat ein.
    Zwei Dinge fielen ihr auf den ersten Blick auf: Auf dem
Schreibtisch in der Ecke stand ein gerahmtes Foto von einem Hund – unbestimmbare Rasse, irgendein Lurcher. Es waren die Augen des Hundes, die ihre Aufmerksamkeit erregten – große, traurige braune Augen. So traurig, dass Dara ihren Anblick kaum ertragen konnte. Das zweite, was ihr auffiel, waren Stanley Flinters Augen, die genauso groß, braun und traurig waren wie die des Hundes. Das war aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Der Hund war riesig, das war offensichtlich, obwohl er auf dem Foto saß. Der Mann dagegen … nun, er war nicht gerade ein Hüne. Man konnte seine Größe noch nicht einmal als durchschnittlich bezeichnen. Klein war das einzige Wort, das auf ihn passte. Wahrscheinlich hätte Dara ihn sogar überragt, wenn sie Stöckelschuhe getragen hätte, was sie jedoch nie tat.
    »Bitte verzeihen Sie, dass es hier so aussieht«, sagte Stanley Flinter. Er beugte sich über einen Stuhl und klopfte mit einem Telefonbuch auf das Kissen, das darauflag, sodass eine dicke Staubwolke aufstieg, die sich in Stanleys kurzem schwarzem Haar festsetzte. Seine Frisur hätte ordentlich wirken können, wäre da nicht der Wirbel gewesen, der dafür sorgte, dass seine Stirnfransen senkrecht in die Luft standen, als würden sie neugierig die Hälse recken. Stanley richtete sich auf. »Ich bin erst kürzlich eingezogen«, erklärte er und breitete mit einer Geste stiller Resignation den Arm aus.
    »Setzen Sie sich hier hin, das ist der sauberste Platz.« Er deutete auf den Stuhl, auf den er soeben mit dem Telefonbuch eingedroschen hatte. Dara ließ sich darauf nieder, und Stanley drehte sich um und begab sich humpelnd zu dem einzigen anderen Stuhl im Raum. Er nahm mit schmerzverzerrtem Gesicht darauf Platz und musterte Dara, die erst jetzt den Kratzer auf seiner Wange bemerkte.
    »Geht es … Ihnen gut?«, fragte sie.
    »Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Stanley fasste sich an die verletzte Wange. »Ich hatte gestern einen kleinen … Unfall.«
    Dara kramte eine Tube aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. »Hier, probieren Sie mal. Wirkt schmerzlindernd und entzündungshemmend.« Stanley zögerte, und die Traurigkeit in seinen großen braunen Augen verwandelte sich in Skepsis. »Es ist ein Naturheilmittel«, sagte Dara, der Skepsis nur allzu vertraut war.
    »Äh, danke.« Er stand auf und humpelte zu einem Spiegel, der schief an der Wand hing. Dara sah, wie er versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, als er etwas von der Creme auf seine lädierte Wange auftrug.
    Sie betrachtete ihn von hinten. Er trug einen schicken schokoladenbraunen Anzug, der allerdings dringend gebügelt gehörte, und außerdem war die Hose gute acht Zentimeter zu lang. Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um sich im Spiegel zu sehen, erspähte Dara ein Preisschild auf einer der Schuhsohlen. Er hatte sie für 69,99 € bei Arnotts gekauft. Weil sie das deutliche Gefühl hatte, dass es ihm nicht behagte, von ihr beobachtet zu werden, wandte Dara den Blick ab und sah sich stattdessen in seinem Büro um, das ziemlich unaufgeräumt war. Mehr noch, es war der Gipfel der Unordentlichkeit. Quasi das Hauptquartier. Dara spielte kurz mit dem Gedanken, aufzustehen und zu gehen, solange Stanley noch vor dem Spiegel stand, doch die Vorstellung, dass er sich umdrehen und mit seinen großen traurigen braunen Augen suchend in seinem leeren Büro umsehen würde, hielt sie zurück. Das und der nagelneue Aktenhefter, der auf seinem Schreibtisch lag. Er war mit einem jungfräulich weißen Aufkleber versehen,
auf dem in ordentlichen kleinen Druckbuchstaben MR FLOOD LOKALISIEREN stand. Die Beschriftung auf dem Aufkleber war mit Abstand das Ordentlichste im Raum. Und so durch und durch optimistisch. Eine Absichtserklärung. Dara beschloss zu bleiben.
    »Fühlt sich tatsächlich schon besser an.« Stanley Flinter lächelte, und sein Lächeln veränderte alles. Er wirkte größer, sein Anzug weniger verknittert, seine Stirnfransen weniger aufmüpfig. Aber am deutlichsten war es in den Augen zu sehen: Ohne den ernsten, traurigen Hundeblick war er

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