Wenn ich dich gefunden habe
ein völlig anderer Mensch. Ein glücklicher Mensch.
»Sie können die Tube behalten, ich hab noch eine zu Hause«, sagte Dara.
»Oh … Danke.« Wieder dieser argwöhnisch-überraschte Blick, der Dara verriet, dass Stanley Flinter nicht viel von seinen Mitmenschen erwartete.
»Also«, sagte er und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Ähm, Sie hatten mir erzählt, dass Sie gestern einen kleinen Unfall hatten«, erinnerte ihn Dara, die nicht so recht wusste, wie man sich bei solchen Gesprächen verhielt.
»Hatte ich das, ja?« Stanley schob sich eine Haarsträhne aus den Augen, die sofort wieder in ihre ursprüngliche Position zurückkehrte.
»Nun, Sie haben es jedenfalls kurz erwähnt.«
»Kaffee«, sagte Stanley plötzlich. »Das wollte ich eigentlich sagen. Möchten Sie Kaffee?«
»Ja, gern.«
»Ich stelle Wasser auf.« Er erhob sich hastig, sodass sein Stuhl nach hinten kippte und gegen ein windschiefes, wackeliges Regal stieß – mit verheerenden Folgen. Das Regal, das mit zwei rostigen Nägeln halbherzig an der Wand befestigt
worden war, knarzte und stürzte zu Boden, und mit ihm der gesamte Inhalt, darunter etliche DVD-Sammelboxen. Dara sah 24, Mad Men, The Wire und – aber da war sie sich nicht ganz sicher – die fünfte Staffel von Sex and the City. Die DVD-Boxen fielen auf ein am Boden stehendes Tablett und zerstörten alles, was sich darauf befand, einschließlich einer Kaffeekanne, zwei Tassen und einem Milchkännchen.
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Darf es auch Tee sein?«, fragte Stanley schließlich.
»Aber natürlich.« Dara hakte die Füße um die Stuhlbeine, um nicht aufzuspringen und Stanley beim Aufräumen zur Hand zu gehen. Sie konnte seine Verlegenheit fast körperlich spüren und wusste, es machte es nicht besser, wenn sie ihm ihre Hilfe anbot.
Er bahnte sich vorsichtig einen Weg durch den Trümmerhaufen ins Nebenzimmer. Eine Kühlschranktür wurde geöffnet.
»Ähm, Sie brauchen hoffentlich keine Milch für den Tee?«
Dara zögerte kurz, ehe sie verneinte. Sie trank ihren Tee zwar gern mit einem ordentlichen Schuss Milch, wollte Stanley in seinem Zustand aber nicht zumuten, die steile Treppe hinunterzuhumpeln, um Milch holen zu gehen.
»Gut, ich habe nämlich vergessen, welche zu besorgen. Ich bin erst kürzlich eingezogen. Hab ich das schon erwähnt?«
»Haben Sie«, sagte Dara. »Sind Sie neu im Geschäft?«
»Nein, meine Detektei gibt es schon ein Jahr, aber bisher habe ich von zu Hause aus gearbeitet.«
»Dann muss das Geschäft ja ganz gut laufen.«
»Na ja, es läuft … besser, schätze ich.« Das klang resigniert,
als wüsste Stanley nicht so recht, ob er diese Entwicklung gut oder schlecht finden sollte. Als Dara sah, wie er mit einer Tasse in jeder Hand aus der kleinen Küche trat, ein Paket Schokokekse unter dem Arm, erhob sie sich hastig und eilte ihm entgegen. Ihre Nerven hätten keine weiteren … Zwischenfälle mehr ertragen.
Während sie ihren Tee trank, der siedend heiß und bitter war, erzählte sie Stanley alles, was sie über Mr. Flood wusste. Es dauerte nicht lange, denn es gab nicht viel zu erzählen. Als sie geendet hatte, schwieg Stanley. Weil er nachdachte? Oder weil er den Mund voll hatte? Dara wusste es nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und dachte an Zigaretten, um die Zeit zu überbrücken und um nicht automatisch das Schlimmste anzunehmen.
Endlich sah Stanley sie an. »Ich werde ganz offen mit Ihnen reden«, sagte er mit todernster Miene, und Dara hielt den Atem an. »Das wird kein einfacher Fall.« Sie nickte. Das war ihr bereits klar. »Aber …«, fuhr er fort, und sie beugte sich nach vorn. Was nun? Ein Ansatz von Optimismus? »… es gibt immer Hoffnung.« Eine seltsame Aussage aus dem Mund eines Mannes, der aussah, als hätte ihn die Hoffnung schon längst verlassen.
»Haben Sie schon mal einen verschollenen Menschen gefunden?«, fragte sie.
Stanley schüttelte den Kopf. »Nein, keinen Menschen.« Er nahm das Blatt zur Hand, auf dem Dara die wenigen Fakten notiert hatte, die sie über Mr. Flood wusste: Name (Eugene Flood), Alter (59), Geburtsdatum (1. November 1949), Staatsangehörigkeit (irisch), Heimatstadt (Bailieborough, County Cavan), Beruf (Maurer) sowie die Tatsache, dass er Linkshänder war, genau wie Dara. Sie wusste nicht, ob das für Stanley relevant war, aber in Anbetracht
der dürftigen Menge an Informationen, mit der sie aufwarten konnte, hatte sie beschlossen,
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