Wenn ich dich gefunden habe
war von ihrem blonden Haar verdeckt. Ihr letztes gemeinsames Weihnachtfest.
Hätte er das damals geahnt, dann hätte Stanley versucht, etwas würdevoller auszusehen. Etwas weniger wie ein dankbarer Welpe aus dem Hundeasyl. Aber genau so hatte er sich damals gefühlt, und an den beiden Weihnachtsfesten davor.
»Wenigstens waren dir zwei, drei schöne Jahre vergönnt«, hatte Sissy mehr als einmal gesagt. Ihre längste Beziehung hatte nicht einmal ein Jahr gedauert – vom Tag nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag bis eine Woche vor ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag. »Dieser elende Geizhals!«, hatte sie an Stanleys Schulter geschluchzt, als ihr klar geworden war, dass sie die Uhr, die ihr Duncan zum Geburtstag versprochen hatte (»eine von D-D-Dolce und G-G-Gabbana«) nun doch nicht bekommen würde.
Hinterher hatte Mutter nicht dasselbe sagen können wie über all die anderen Mädchen, die es gewagt hatten, einem ihrer Jungs das Herz zu brechen. Die Lage war äußerst verzwickt. Wegen Cormac. Und wegen dem Baby. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter«, mehr war ihr unter den gegebenen Umständen nicht eingefallen. Stanley wusste, es war gut gemeint.
Er stand vor der Anrichte in der Küche, kippte den Whiskey und schlang zwei Penguin-Schokoriegel hinunter, ohne viel davon zu schmecken – ein Jammer, wenn man bedachte, wie sehr er die Dinger liebte. Es war doch schon so gut gelaufen! Na ja, etwas besser zumindest. Aber Cormacs Bekanntgabe ihrer Hochzeitspläne und die Einladung zur Verlobungsparty hatten ihn total aus der Bahn geworfen. Cora würde also doch noch eine Mrs. Flinter werden. Es hätte ihm weniger ausgemacht, wenn sie irgendeinen anderen geheiratet hätte. Sie hatten rein gar nichts gemeinsam, das war ihm mittlerweile, mit dem nötigen Abstand,
sonnenklar. Nein, es war die Tatsache, dass sie ausgerechnet Cormac heiratete. Seinen großen Bruder. Den Größten. Den arroganten, rechthaberischen, selbstbewussten Cormac mit seinem unerträglichen Glauben an sich selbst und alles, was er tat. All diesen Eigenschaften zum Trotz hatte Stanley ihn geliebt und verehrt, wie man es als kleiner Bruder eben tut.
Er brauchte dringend Ablenkung. Er räusperte sich und sprach Dara Flood eine Nachricht auf Band. Dann beschloss er, mit Clouseau spazieren zu gehen, obwohl es schon nach Mitternacht war. Der Hund musste zweimal täglich raus, wobei genau genommen ja schon morgen war. Stanley griff nach der Leine und rief leise, um Sissy nicht zu wecken: »Clouseau!« Sein Körper kreischte bei jeder kleinsten Bewegung vor Schmerz. Er lehnte sich an die Anrichte und rüstete sich, als der mächtige Vierbeiner durch den Flur galoppierte und sich auf ihn stürzte.
»Äh, wie wär’s mit einem Spaziergang, Clouseau?«, fragte Stanley. Er wusste noch nicht so recht, wie er mit seinem Hund reden sollte. Clouseau richtete sich auf und schlang ihm die Vorderpfoten um den Hals wie eine Geliebte, und dann gab er ein durchdringendes, aufgeregtes Bellen von sich, gefolgt von einem langen, klagenden Jaulen, als würden die Sorgen der ganzen Welt auf seinen Schultern lasten. Alles in allem eine eher verwirrende Reaktion.
Stanley ging trotzdem mit ihm raus. Beschäftigt sein, in Bewegung bleiben, dachte er, während er hinter seinem Hund her joggte. Und wann immer sich ein Gedanke an Cora in sein Gehirn stahl, zählte er im Kopf die Zutaten für seine Beerenpavlova auf, die ihn kein bisschen an Cora erinnerte, denn Cora hasste Baisertorten. Sie hasste alles, was süß war.
16
Das Haus in der Abbey Street hatte schon bessere Tage gesehen. Das galt insbesondere für die Tür. Die schwarze Farbe blätterte ab, der Knauf war verrostet. Als Dara auf die Klingel neben dem handgeschriebenen Schild mit der Aufschrift »Stanley Flinter« drückte, fiel ihr auf, dass sie Trauerränder unter den Fingernägeln hatte. Wohl, weil sie ihrem Neuzugang Jeffrey heute Vormittag geholfen hatte, den Knochen zu finden, den er gestern Abend unter großen Anstrengungen vergraben hatte. Jeffrey war ein riesiger und etwas vergesslicher Bernhardiner.
Es dauerte, bis der Türsummer ertönte, und das Geräusch, ein halbherziges, trotziges Wehklagen, wirkte genauso alt wie das Gebäude selbst. Dara versuchte, die Tür zu öffnen. Nichts geschah. Erst als sie sich beim zweiten Anlauf mit der Schulter dagegenwarf, flog die Tür auf und Dara taumelte in den Vorraum, wo ihre Hüfte prompt mit einem Wandtischchen kollidierte. Sie kniff vor Schmerz
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