Wenn ich dich gefunden habe
Miene. »Das große Abenteuer, das man Leben nennt, Schätzchen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Du solltest es mal ausprobieren.« Das sagte ihr ausgerechnet eine Frau, die ein totales Einsiedlerleben führte. »Wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja sogar.«
Miss Pettigrew lächelte, als wüsste sie, wovon sie sprach, und vielleicht war das ja auch der Fall. Aber es war lange her, dass sie das große Abenteuer, das man Leben nannte, erlebt hatte, und seither hatte sich die Welt verändert. Sie war gefährlich und enttäuschend und unberechenbar geworden. Und selbst wenn man es nicht am eigenen Leib erfuhr, man musste bloß die Zeitung aufschlagen oder den Fernseher einschalten, um zu sehen, wie … riskant das Leben war. Dara spürte zu ihrer Bestürzung, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen, dabei weinte sie sonst nur, wenn es wirklich einen triftigen Grund dafür gab.
»Alles verändert sich«, flüsterte sie.
Miss Pettigrew nickte. »Ja, Schätzchen. Aber manchmal
nehmen die Dinge auch eine Wendung zum Besseren, nicht?«
Dara nickte wenig überzeugt.
»So, und jetzt ab durch die Mitte mit dir«, sagte Miss Pettigrew und erhob sich steif. »Ich hab zu tun.«
Dara hatte keine Lust, das warme, gemütliche Haus ihrer Nachbarin zu verlassen oder die Nummer auf dem Stück Papier zu wählen, das sie in der verschwitzten Hand hielt, aber sie wusste, sie würde es tun. Sie hatte Angel versprochen, Mr. Flood zu suchen – und zu finden. Sie hatte nur keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.
Also straffte sie die Schultern, atmete einmal tief durch und kniff die Augen zu. Sie zögerte kurz, und dann kehrte sie ihrem bequemen, ruhigen Leben den Rücken zu und trat hinaus in die gefährliche, unberechenbare Welt. Hinaus in das große Abenteuer, das man Leben nannte.
15
Stanley Flinter war gerade unterwegs, als er am darauffolgenden Abend um 21.23 den Anruf erhielt. Er hatte von einer Versicherungsfirma einen Beschattungsauftrag erhalten, ganz offiziell, weshalb er ein etwas höheres Honorar verlangen konnte und die Chancen, zur Abwechslung mit Geld bezahlt zu werden, gar nicht schlecht standen.
Als sein Handy klingelte, saß Stanley auf einer riesigen Eiche, deren Äste so dick wie die Oberschenkel eines Sumo-Ringers waren und hervorragenden Sichtschutz boten. Bei dem zu beschattenden Subjekt handelte es sich um einen Mann, der einen Pub namens The Daytripper auf eine sechsstellige Summe verklagt hatte. Er war in dem Lokal gestürzt, nachdem er ausgiebig einer seiner großen Leidenschaften gefrönt hatte, nämlich dem Konsum großer Alkoholmengen in Form von mehreren Dosen Beamish, und das, obwohl er außer zwei Packungen gerösteter Erdnüsse den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Nach seinem kleinen Unfall (er war auf einer leeren Beamish-Dose ausgerutscht) hatte er umgehend seinen Anwalt kontaktiert, um den Pub zu verklagen.
Besagtes Subjekt, genannt Tommo »Dick und Doof« Traynor, (und zwar weniger wegen seines beträchtlichen Körperumfangs als vielmehr wegen seiner Begriffsstutzigkeit), übte sich gerade hinter seinem Haus im Bankdrücken und stemmte eine Neunzigkilohantel, ohne in
Schweiß auszubrechen, wie Stanley durch sein Fernglas sehen konnte. Neben ihm auf dem Boden lagen, gleich abgetrennten Körperteilen, eine Halskrause, ein Rückenkorsett, eine Armschlinge und zwei Krücken. Das ist Gold wert, dachte Stanley, als er das lange Objektiv seiner guten alten Nikon auf das Subjekt richtete. Den Blitz hatte er ausgeschaltet, um sich nicht zu verraten. Technischer Fortschritt hin oder her, er liebte seine Kamera, ihr Klicken und Surren und die Geschichten, die sie erzählen konnte, wenn sie erst einmal im Inneren ihres robusten schwarzen Gehäuses gespeichert waren.
Genau in diesem Moment kam der Anruf, und sein Klingelton, eine schrille Version der Titelmelodie von Doctor Who zerriss die Stille und hallte bedrohlich durch die Baumwipfel. Stanley, der ohnehin schon ziemlich nervös gewesen war, weil Tommo Traynor eine hohe Gewaltbereitschaft nachgesagt wurde, zuckte erschrocken zusammen, und dieses verhängnisvolle Zucken setzte eine Kettenreaktion unerfreulicher Ereignisse in Gang. Sein Körper klappte zusammen und begann, auf dem Ast, auf dem er rittlings saß, seitwärtszurutschen. Hätte Stanley die Kamera losgelassen, dann wäre alles vielleicht anders gekommen, doch nein, er hielt sie an seine Brust gepresst, sodass er nur eine Hand frei hatte, die auf der Suche nach Halt
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