Wenn ich dich gefunden habe
»Är hat Spritze bekommen, und später Tierarzt wird ihn untersuchen, aber …«
»Warte mit deiner Entscheidung noch bis morgen«, bat Dara.
»Aber är hat dich gebissen!«
»So schlimm war es nicht. Bloß ein Kratzer.«
»Du kannst sie nicht allä retten, Dara Flood«, sagte Anya. In ihrer Stimme schwang mehr Melancholie als sonst mit.
20
Stanley Flinter bewohnte ein hübsches altes Reihenhaus in einer Seitenstraße der Main Street von Baldolye. Zwei Zimmer oben, zwei unten, dazu ein Garten, kaum größer als eine Briefmarke. Er hatte es gekauft, nachdem er herausgefunden hatte, was zwischen Cora und Cormac lief. Und obwohl er die Tür zu dieser Szene geschlossen und versperrt, die Jalousien zugezogen und das Schlüsselloch verstopft hatte, sah er sie immer noch vor sich. Nicht mehr ständig, wie damals, kurz nachdem es passiert war. Aber in schwachen Momenten, etwa, wenn er mal wieder unter Clouseau auf dem Wohnzimmerboden lag und der Hund sich weigerte aufzustehen, sodass Stanley nichts anderes übrig blieb, als einfach dazuliegen und abzuwarten – da kehrten die unliebsamen Erinnerungen zurück. Erst flackerten sie nur in den hintersten Gehirnwindungen auf, doch sie schlängelten sich unaufhaltsam in sein Bewusstsein, bis sie den gesamten Bildschirm vor seinem inneren Auge einnahmen. Wobei man in diesem Fall eher von einer Kinoleinwand sprechen konnte, leider. Selbst nach all der Zeit sah er immer noch alles gestochen scharf vor sich. Doch am schlimmsten waren die Geräusche. Die Augen kann man verschließen, aber die Geräusche hört man trotzdem. Er hatte sie gehört, und er war trotzdem weiter darauf zugegangen. Auf die Schlafzimmertür. Hatte es einfach nicht glauben können.
Kurz darauf hatte er das Haus gekauft. Dabei hatten ihm alle davon abgeraten, weil a) die Immobilienpreise nach wie vor so hoch waren, dass sie selbst den abgefeimtesten Käufern die Tränen in die Augen trieben, und das obwohl der Immobilienboom bereits auf sein Sterbebett zuwankte, und weil b) sogar der Makler zugegeben hatte, dass das Haus einer ganzen Reihe von Reparaturen bedurfte. Besser gesagt, einer Runderneuerung: neues Dach, neue Strom- und Wasserleitungen, neuer Verputz, neuer Anstrich.
Zum Glück waren Stanleys Brüder nicht nur allesamt bei der Garda Síochána, sondern überdies handwerklich sehr begabt. Sie legten alle Hand an in diesem Sommer, sogar Cormac, der der Geschickteste von ihnen war. Das war seine Art der Selbstgeißelung. Seine Wiedergutmachung. Stanley wollte ihn nicht auf der Baustelle haben, aber er kam trotzdem, kraxelte mit nacktem, tief gebräuntem Oberkörper auf dem Dach herum, und die Nägel ragten ihm wie Reißzähne aus dem Mund.
Es war das ideale Haus für Stanley und Sissy gewesen, doch dann war vor einem Monat ein gewisser Chief Inspector Jacques Clouseau zu ihnen gestoßen. Seither war das winzige Blumenbeet, in das Stanley vorigen Herbst dicke, vielversprechend aussehende Blumenzwiebeln gesetzt hatte, nur noch eine Aneinanderreihung von Hügeln und Löchern, geschaffen von einem enthusiastischen Clouseau, nachdem er dort sein Geschäft erledigt hatte. Vor und nach der Verrichtung desselben wurden eifrig die Lkw des Recyclinghofes verbellt, die draußen auf der Straße vorbeiratterten, was aufgrund der Tatsache, dass Recycling ein ziemlich lukrativer Wirtschaftszweig ist, viel zu oft vorkam.
Wenn sich Clouseau darauf beschränkt hätte, den Garten zu zerlegen, wäre alles nicht so schlimm gewesen. Natürlich
hatte Stanley damit gerechnet, dass der Hund gelegentlich an seinen Pantoffeln kauen oder anderweitige Dummheiten machen würde, zumal er noch recht jung war, aber die gesamte Wohnzimmereinrichtung? Eine Patchworkdecke, handgefertigt von seiner Großmutter mütterlicherseits, die mittlerweile das Zeitliche gesegnet hatte? Die Hosen von zwei noch ziemlich guten Anzügen? Die Jacken hatte Clouseau nicht zu fassen gekriegt – wenngleich er es versucht und im Zuge dessen die Kommode in Stanleys Schlafzimmer umgeworfen hatte. Dabei war nicht nur der Großteil von Stanleys DVD-Sammlung kaputtgegangen, sondern auch das einzige gerahmte Foto von sich und Cora, das er behalten hatte. Das, auf dem sie auf dem Mount Errigal, dem höchsten Berg in Donegal standen. In letzter Zeit hatte sich Stanley bei der Betrachtung des Bildes jedes Mal gefragt, warum er sie geliebt hatte. Sie hatten nichts gemeinsam. Er hatte sie bestechen müssen, damit sie ihm auf den Berggipfel gefolgt
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