Wenn ich dich gefunden habe
versetzten Stanley einen Stich. Er hatte gespürt, dass sie so war – dass sie keine großen Erwartungen hegte. Diesbezüglich waren sie sich ähnlich. Aber er hatte sie überraschen, ihre Erwartungen übertreffen wollen.
Er hatte versagt.
II
29
»Was machst du da?« Sissy griff nach einem Stapel Unterlagen und setzte sich auf Stanleys Schreibtisch, direkt neben seinen Laptop. Der Tisch bog sich ein wenig durch, dabei handelte es sich um ein ziemlich robustes Möbelstück, handgefertigt von Stanleys Großvater, der seine gesamte Freizeit dem Möbelbau gewidmet hatte. Der alte Herr hatte Stanley das gute Stück vererbt, weil er seiner Ansicht nach der einzige Enkel war, der seine Werke zu schätzen wusste. Der Tisch knarzte, als Sissy ihr Gewicht verlagerte, und Stanley ließ die Hand über die glatte, polierte Tischplatte gleiten. Es war wirklich ein sehr robuster Tisch, aber war er robust genug für Sissy?
»Ich werde Mr. Flood finden«, verkündete Stanley und nahm Sissy die Unterlagen aus der Hand.
Sie musterte ihn überrascht, und er wusste genau, wieso: Dieser Optimismus war untypisch für ihn. Er fühlte sich auch ungewohnt an. Ungefähr so, als würde man den linken Schuh am rechten Fuß tragen und umgekehrt. Es war zwar nur ein ganz leiser Optimismus, aber immerhin. Optimismus war ein höchst seltener Gast in der Welt des Stanley Flinter. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl deshalb nicht auf Anhieb erkannt. Aber als er begriffen hatte, womit er es zu tun hatte und das Gefühl akzeptiert – mehr noch, es auf eine Tasse frisch gebrühten Kaffee und einen seiner Schokobrownies hereingebeten hatte, fühlte er sich
bedeutend besser. So gut wie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr. Er führte es darauf zurück, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, neulich, nachdem er Dara am Hundeasyl abgeliefert hatte. Er würde tun, worum sie ihn gebeten hatte: Er würde Mr. Flood finden.
Sissy rutschte vom Schreibtisch, umrundete ihn und rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Du erinnerst mich irgendwie an Cormac«, stellte sie fest.
»Quatsch. Ich bin doch viel kleiner als er.«
»Trotzdem siehst du gerade aus wie Cormac; nur eben wie eine verkürzte Version von ihm.«
Da lag sie wohl nicht ganz falsch. Vermutlich empfand Cormac diesen Optimismus, diese Entschlossenheit Tag für Tag. So fühlte es sich also an, wenn man Aufgaben erledigte, Ziele erreichte und das bekam, was man wollte. Kein Wunder, dass er ständig so selbstgefällig grinste.
»Jedenfalls hast du neulich noch behauptet, es sei sehr unwahrscheinlich, dass du diesen Mr. Flood findest. Hoffnungslos sogar.« Sissy trat ein paar Schritte zurück, beäugte ihn weiter prüfend. Skeptisch.
»Ich habe nie gesagt, dass es hoffnungslos ist.«
»Gesagt vielleicht nicht, aber du hast es gedacht, oder?«
Stanley ging nicht darauf ein. Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und sah sie an. »Es ist zu früh, um den Fall als ungelöst abzustempeln. Erst möchte ich sichergehen, dass ich alles im meiner Macht Stehende unternommen habe, um ihn zu finden. Das ist das Mindeste, was ich für … einen Klienten tun kann.«
»Aha.« Sissy lächelte milde. »Verstehe.«
»Was?«
»Du meinst, es ist das Mindeste, was du für Dara Flood tun kannst.«
»Sag ich doch. Für einen Klienten. Dara ist meine Klientin.«
»Das wird sie nicht ewig sein. Und sie ist zauberhaft. Und so zierlich …« Es klang wehmütig. Sissy wurde sogar von ihrer eigenen Mutter, die sie ganz unverblümt ihre Lieblingstochter nannte, als »ein Mordstrumm Weib« bezeichnet, dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zierlich zu sein. Feingliedrig. Filigran. Selbst Clouseau, das Riesenvieh, reichte ihr nur bis zu den – durchaus straffen, aber umfangreichen – Oberschenkeln. Es war kein Gramm Fett an ihrem Körper, sie war einfach nur groß und grobschlächtig.
»Darum geht es doch gar nicht, Sissy. Ich bin noch nicht so weit, und das weißt du auch.« Stanley fand nicht, dass er ein Pessimist war, wie Sissy immer sagte. Er war ein Realist. Das war ein Unterschied.
»Es ist Zeit, Stanley«, sagte Sissy mit ihrer irritierend optimistischen Art. Als würde sie ihn besser kennen als er sich selbst.
»Womöglich hat sie einen Freund. Oder sogar einen Mann«, winkte Stanley ab, um ihr ihre Ideen auszutreiben.
»Es ist Zeit«, wiederholte Sissy stur. Sie machte ihn noch wahnsinnig.
»Ist es nicht. Es ist zu früh«, beharrte Stanley mit einem Anflug von Panik und
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