Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Fahrt über den Kopf und freuen uns wie kleine Kinder.
Über zwei Stunden lang begegnen wir keiner Menschenseele – keinem Auto, keinem Lastwagen, nichts. Allein, wirklich allein, ein Pünktchen im kosmischen Raum.
Plötzlich führt die Straße zwischen zwei Waldstücken hindurch, und die Luft wird schneidend. Ohne Vorwarnung kommen wir in eine grüne Ebene, eine andere Dimension: Auf dürre Weiten folgt eine fast kanadisch anmutende Landschaft.
Ebenso unvermittelt kehrt Texas zurück, mit langen, verlassenen Straßen und kahlen Ebenen. Lichter, Farben, doch weißt du nie, wie sehr du dich täuschst, denn zu viel Helligkeit macht blind.
In der Ferne tauchen Riesenkörper auf, prähistorische Vögel, die am Boden picken auf der Suche nach steinernen Samen oder Kalkwürmern. Erst als wir näher kommen, erkennen wir, dass es sich um Pumpen zur Erdölförderung handelt.
»Erdöl«, erkläre ich Andrea, »Erdöl für Motoren.«
»Erdöl«, antwortet Andrea wenig überzeugt.
»Weißt du, welche Farbe das Erdöl hat?«
»Erdöl schön.«
»Nein, das glaube ich kaum… Es ist schwarz.«
Wie hypnotisiert starrt er auf die Bewegung der Pumpen.
In Denton überrascht uns der Sonnenuntergang, gerade als wir in einem Motel für wenige Dollar ein Zimmer bezogen haben. Das Personal stammt aus dem Orient, Verständigung unmöglich. Als ich nach einem Restaurant frage und wo denn das Zentrum sei, antworten sie nicht, sondern wiederholen bloß: »Dollars cash.«
Heute hat Andrea wenig gegessen, nur Brot im Restaurant, aber mir scheint, es geht ihm gut. Er hat bisher keine einzige Krise gehabt, keinen jener schwierigen Momente, in denen er sich auf den Bauch schlägt oder in die Arme beißt.
In all den Tagen habe ich nie bemerkt, dass er mal auf die Toilette gegangen wäre. Na ja! Entweder macht er heimlich, oder ich weiß es auch nicht.
»Andre«, sage ich zu ihm, »hast du vergessen, aufs Klo zu gehen?«
Er kneift den Mund zu, sieht mich nicht an.
»Also, was ist mit dem Klo?«
»Klo schön.«
»Tu nicht so unschuldig…«
»Ruhe haben.«
Jedenfalls ist er immer sauber, keine Spuren am Körper außer dem Straßenstaub, der am Schweiß kleben bleibt.
Unfruchtbares Wüstenland. Wenige Geräusche, wenig Wasser. Die Auswirkungen dieser Szenerie hatte ich nicht bedacht. Dabei hätte ich sie einrechnen müssen.
Texas pur
Zwischen Denton und Amarillo liegt ein ganzer Kontinent. Die Straße dehnt sich mehr als das Gummiband, das mich und Andrea zusammenhält. Ununterbrochen bespritzen wir uns mit Wasser, denn die Temperatur liegt bei über vierzig Grad. Zum Glück haben wir die Sonne morgens im Rücken, das Licht blendet nicht und entzündet deshalb die Landschaft nicht gleich.
Nach Kilometern in glühender Hitze halten wir am Ufer eines rostroten Flusses, der einem Strom flüssiger Erde gleicht. Andrea ist fasziniert von dem Anblick, er will um jeden Preis die Füße hineinstrecken.
Verfluchtes und gesegnetes Wasser, immer zieht es ihn magnetisch an.
Mir fällt ein, wie Andrea einige Male spurlos von zu Hause verschwunden war. Eben war er noch da, und eine Sekunde später ist er weg. Voller Angst läufst du kreuz und quer durchs Dorf, telefonierst, machst die ganze Welt verrückt, versuchst dich an jeden Ort zu erinnern, der etwas Besonderes für ihn bedeutet, aber die Sorge vernebelt dir das Hirn. Also rufst du die Polizei, Ordnungskräfte jeder Art, sogar die Armee hättest du am liebsten gerufen, wärst du nicht auf die Idee gekommen, ihn am Fluss zu suchen. Dreimal war er verschwunden, dreimal haben wir ihn an einem Wasserlauf wiedergefunden, reglos dasitzend, den Kopf in den Händen.
Ich habe die vielen Eigenschaften des Wassers studiert, ich weiß, dass es drei Aggregatzustände kennt: fest, flüssig und gasförmig. Andrea hat meiner Meinung nach mindestens vier: abwesend, fast präsent, erregt, verschlossen. Vermutungen am Rand jenes rutschigen Terrains, das sein Innenleben ist.
Mittlerweile denke ich, im Wasser fühlt er sich wahrscheinlich wie eine schwankende Alge, wie Strömung und Gezeiten. Als ob er selbst Wasser wäre.
Andre, Andre, woraus bist du bloß gemacht?
Ich helfe ihm, seine Hosenbeine aufzukrempeln, und sehe ihn einige Meter in den Fluss waten. Vom Grund holt er mit beiden Händen roten Schlamm herauf und trägt ihn ans Ufer, um am Boden Linien damit zu ziehen.
Noch einige Stunden Motorrad bis Amarillo. Gerade habe ich festgestellt, dass man auf dem Navi auch Bed and Breakfasts
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