Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
aus wie zwei Landstreicher, völlig zerzaust, mit schlammbespritztem Motorrad. Andreas Gesicht ist so schwarz wie das eines Bergarbeiters. Als wir auf die Rezeption zugehen, schauen uns die Portiers an der Tür mit offenem Mund nach. Die Gäste murren verwundert, aber elegant.
»Hast du gesehen, Andre, die Gäste hier sind so reich, dass sie aussehen, als wären sie für eine Hochzeit angezogen.« In der Tat: Das Carlton ist fast vollständig für eine prachtvolle Hochzeitsfeier gebucht. Wie durch Zauberei erscheinen Braut und Bräutigam in der Nähe des Empfangs. Die Atmosphäre ist festlich und entspannt, weich wie parfümierte Watte.
Ich stelle mich an, Andrea dagegen stürzt sich auf die Braut. Er erkennt sie an ihrem schönen hellblauen Kleid und küsst sie mit einem Schmatz auf den Mund. Tja, meine Dame, Sie tragen ein Kleid, das Sie zu einem leicht erkennbaren Ziel macht, Sie können nicht annehmen, dass ein tüchtiger Bomber keinen Kuss auf Sie abfeuert. Die Dame breitet ergeben die Arme aus, der Bräutigam läuft auf sie zu wie ein Grizzlybär, dem nach acht Jahren Einsamkeit in den Rocky Mountains die Gefährtin entführt wird. Überraschung: Andrea küsst auch ihn.
Der Mann erfasst die Lage schneller als seine Zukünftige und fängt an zu lachen. Die Gäste kennen sich nicht mehr aus: Sie denken an einen Theatercoup, an einen verheimlichten Sohn, der gekommen ist, um seine Mutter vor dem schicksalhaften Jawort zu küssen. Könnte ja sein, Andrea ist jung, und die Braut ist eine attraktive Vierzigjährige. Die anwesenden Frauen spüren einen Kitzel perfider Neugier, die Männer zwinkern sich zu. Überall wird gemurmelt. Zum Glück trifft Andrea mit seinen Kuss-Salven auf Damenhöhe auch noch ein paar Brautjungfern. Der Junge muss also entweder ein bezahlter Provokateur der Liga gegen die Ehe sein oder ein vom Vollmond inspirierter sympathischer Küsser.
»Andrea, komm her!«, brülle ich, aber gleichzeitig fordert mich jemand auf, das Motorrad wegzufahren. »Ja, gleich, Moment mal!, wir bräuchten ein Zimmer«, flehe ich.
»Nein, fahren Sie erst das Motorrad weg, und erklären Sie Ihrem Sohn, dass das ein Ficus ist und er die Blätter nicht abreißen soll!«
Okay: »Andrea, lass den Baum los! – Aber wir suchen ein Zimmer, wir kommen von der anderen Küste, wir sind Tausende von Kilometern quer durch Amerika gebraust und sind gerade ein ganz klein wenig erholungsbedürftig.«
Die Empfangsdame, die bis zu diesem Moment unerschütterlich zugesehen hat, wie ihre Truppe versucht, uns in Schach zu halten, zieht belustigt eine Augenbraue hoch.
»Ist der Junge Ihr Sohn?«, fragt sie, doch ich merke, dass sie wissen will, was Andrea hat.
»Der Junge ist autistisch.«
Teils aus Sympathie, teils, damit wir aus dem Weg sind, nimmt sie uns unter ihre Fittiche und geleitet uns in ein fürstliches Zimmer. Genau was wir brauchen…
Sauber und erfrischt, wie neugeboren, gleichen wir zwei Lords und haben nichts mehr gemein mit den abgerissenen Landstreichern von vor wenigen Stunden. Und wie Lords bestellen wir einen Whiskey für mich und reinstes Wasser für Andrea. Mit einem gewissen Dünkel blicken wir auf die Welt herab. Sind wir nun am Pazifischen Ozean oder nicht? Aus der Bar kommt dichtes Stimmengewirr, doch wir zwei lassen den Abend auf unsere vornehme Art in einem bequemen Sessel ausklingen, überzeugt, dass wir viel geleistet haben. Sehr viel sogar.
Und jetzt?
Los Angeles
Ich reiße die Augen auf, und scheinbar grundlos überfällt mich ein sonderbares Unbehagen. Die Begeisterung darüber, einen anderen Ozean erreicht zu haben, ist wie weggeblasen. Ich habe den Eindruck, nirgends angekommen zu sein. Wie soll es nun weitergehen? Wir könnten auf dem Rückweg die Küste hinauffahren, das soll sehr schön sein. Portland sehen, und dann vielleicht hoch bis nach Kanada. Mit Zwischenstopp in Seattle.
Doch der Gedanke setzt innerlich nichts in Bewegung.
Der Himmel ist noch grau, ich habe keine Lust, das Motorrad zu nehmen. Zu Fuß suchen wir uns ein Frühstückslokal. Während eine Kellnerin unsere Bestellung aufnimmt, erhebt sich Andrea, inspiziert den Tresen, verschiebt etwas, es fällt um, und der Besitzer ist verärgert. Ich sehe, wie er Andrea am Arm packt und ihn festhalten will. Das ist nicht so leicht, wie er dachte. Andrea reißt sich zwar nicht los, aber er verlagert sein Körpergewicht nach hinten, um sich zu entfernen, und die Sache tut ihre Wirkung. Unerwartet wird der Mann nach vorn
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