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Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)

Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)

Titel: Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fulvio Ervas
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macht dich hungrig und sättigt dich nicht. Was wird uns davon bleiben?
    Nur ein Gefühl der Melancholie?

Pelé ist an allem schuld
     
    Ich packe, und Andrea verschwindet im Badezimmer: Regungslos starrt er auf das Wasser im Klo, spiegelt sich darin, und ich sage: »Hey, Beeilung, Mexiko ruft.« Nichts zu machen. Es bleibt mir nichts anderes übrig als abzuwarten, bis dieser Zustand sich auflöst. Es ist, als müsste Andrea eine komplizierte Arbeit ausführen, und solange er nicht fertig ist, darf ihn niemand stören. Vielleicht will er ja auch die Abreise hinauszögern. Diesmal scheint ihn die Veränderung zu irritieren. Doch plötzlich kommt offenbar alles wieder ins Lot. Sein Spiegelbild gefällt ihm, oder das unsichtbare Loch im Abfluss der Toilette ist repariert. Andrea ist wieder bei mir.
    Der Taxifahrer, der uns zum Flughafen bringt, weiß kaum etwas über Mexiko, so als gäbe es jenseits der Grenze gar nichts Interessantes.
    Wir stürmen zur Abflugtafel: Mexico City, Cancun, La Paz, Loreto, Guadalajara.
    Guadalajara… der Name weckt längst vergessene Erinnerungen an meine Kindheit: Fußball-Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko, mein Vater und ich schauen uns die Übertragung des Spiels Brasilien–England aus dem Stadion von Guadalajara an, Orangenlimonade, gespannte Stille, guter Fußball, England wankt, sei es wegen der Hitze, sei es wegen Pelé, der fabelhaft spielt. Mein Vater fiebert mit, er ist auf der Seite von Brasilien, und Brasilien gibt alles. Plötzlich klingelt es an der Tür, er zögert, es klingelt erneut, ich will aufstehen, und er schnauft ungeduldig: »Nein, warte, ich gehe schon.« Er ist nur wenige Sekunden weg, verpasst aber die schönste Abwehr, die ich je gesehen habe. Gordon Banks, der englische Torwart, hält einen Kopfschuss von Pelé. So eine Abwehr gibt es gar nicht, sagen sie hinterher.
    Als mein Vater wieder hereinkommt, weiß ich nicht, was ich sagen soll, mir fehlt der Mut, ihm zu erzählen, was ich gerade gesehen habe. Er erkennt es an meinem Blick: »Hat es ein Tor gegeben?«, fragt er. »Nein«, antworte ich, »aber Pelé hat aufs Tor gezielt, und der Torwart ist von einem Pfosten zum anderen geflogen.« – »Geflogen?« – »Ja, Papa, ich hab’s gesehen, er ist geflogen wie ein Vogel.«
    »Siehst du«, hat mein Vater gesagt, »nicht immer braucht man Flügel, um großartige Dinge zu tun.«
    Also auf nach Guadalajara! Es gibt sogar in Kürze einen Flug mit Delta Airline.
    Wir reihen uns am Delta-Schalter in eine endlose Schlange ein. Andrea kann man nicht als gesitteten Kunden bezeichnen, wir sind mitten in einer herumschreienden Menschenmenge, die Passagiere sind nervös, die mit Klebeband umwickelten Koffer unüberwindliche Berge. Es kommt zu kleinen Streitereien, die Stimmung ist gereizt, und das Personal hat andere Sorgen. Wirklich unangenehm, das alles, ich bereue schon fast, dass wir einfach so zum Flughafen gefahren sind. Noch dazu eröffnet man uns, als wir an die Reihe kommen, dass nach Guadalajara keine Plätze mehr frei sind.
    Sieht schlecht aus, aber kein Grund zur Verzweiflung. Wir laufen quer durch den halben Flughafen und entdecken zufällig die Schalter einer anderen Gesellschaft, die nach Guadalajara fliegt, die Mexicana. Kein Mensch am Ticketschalter, wir sind die einzigen Kunden. Von der Delta-Hölle ins Mexicana-Paradies. Das Personal ist überaus zuvorkommend, wir kriegen zwei bequeme Plätze. Ich frage mich, ob die Mexicana-Maschinen vielleicht besonders absturzgefährdet sind oder was sonst dahintersteckt. Die Antwort ist ganz einfach: Bis zum Abflug dauert es noch vier Stunden.
    Hoch über den Wolken von Mexiko wische ich Andrea den Hintern ab. Er kam und kam nicht von der Toilette zurück. Ich habe lange geklopft, bis er endlich aufgemacht hat. In dieser Höhe macht einen das schon ein wenig nervös. Während ich wieder für blitzende Sauberkeit sorge, fällt mir auf, dass Andrea sich an der Unterlippe geschnitten hat, sie blutet. Ich frage, ob es ihm weh tut, aber er antwortet nicht, kräuselt nur leicht den Mund. Über körperliche Schmerzen beklagt er sich sehr selten. Im vergangenen Jahr war er versehentlich mit dem Bein an den Auspuff des Motorrads gekommen: Eine riesige Brandblase war die Folge. Aber er gab keinen Mucks von sich. Ich habe die Blase erst entdeckt, als sie schon aufgeplatzt war. Autistische Kinder haben eine unglaubliche Schmerztoleranz, und Andreas Schwelle muss besonders hoch sein. Als er klein war, rannte er barfuß den Weg

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