Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
gezogen und flucht halblaut.
Ich bereite mich schon auf die Vorwürfe vor: Wenn die Leute kapieren, dass ich für Andrea verantwortlich bin, fühlen sie sich häufig bemüßigt, mir mitzuteilen, er habe dies oder jenes getan. Gewöhnlich antworte ich, manchmal schweige ich, manchmal schicke ich sie auch zum Teufel, es hängt davon ab, wie sie mir kommen und wie ich mich fühle.
Vom Tisch aus brülle ich: »Der Junge ist autistisch!« Die Gäste drehen sich nach mir um, und die Kellnerin reißt die Augen auf.
Der Hinweis scheint den Besitzer nicht zu besänftigen, er mustert Andrea mit grimmigem Gesicht.
»Ruhe haben«, sagt Andrea, der Mann versteht ihn nicht, und auch der Ton gefällt ihm nicht.
Jetzt reicht’s, denke ich wütend und bin mit einem Satz am Tresen, packe den Kerl am Arm und sage: »Schämen Sie sich!«
»Was wollen Sie?«
»Der Junge ist mein Sohn. Er hat ein kleines Problem.«
Der Besitzer beruhigt sich nicht. Ich auch nicht. Anscheinend haben wir beide einen schlechten Tag.
Wir fordern uns mit Blicken heraus.
Gleich gehen wir mit Fäusten aufeinander los. Doch dann zuckt er auf einmal die Achseln und tut so, als wäre ich Luft, als sei das Ganze allein seine Sache und ginge mich nichts an: Schon wieder so ein Vater, der gleich angerannt kommt, wenn der Sohn etwas angestellt hat, weil er meint, jemand wolle ihm sein Kind wegnehmen; ja, soll er es doch behalten! Wer wollte es denn haben?
Der Mann hat nichts dergleichen gesagt, aber ich habe es in seinem Blick gelesen.
Die Sonne ist noch schüchtern. Der Strand ist eine Art große Piazza, ein Treffpunkt: Man diskutiert, spielt, macht Yoga. Die Liebespaare küssen sich, die Mimen sind erstarrt in ihren Posen, Segelboote ziehen parallel zum Ufer vorbei, gelbe Taxis kommen und fahren mit Fahrgästen beladen wieder los. Andreas Blick ist ernst, er hat einen Baseballschläger aus Kunststoff gefunden und zaubert damit herum, während er den Gehsteig entlanggeht.
Hast du etwa geglaubt, denke ich, dass du dem Autismus einfach davonlaufen könntest? Dass er es irgendwann sattbekäme, dir überallhin zu folgen? Tock, tock, klopft er, tock, tock, jeden Morgen, er lässt sich nicht abwimmeln.
Dennoch habe ich Barnard, unserem Arzt, nie geglaubt, wenn er zu mir sagte, Autismus habe genetische Ursachen.
»Früher wurde alles mit der Psychologie erklärt, jetzt sind es die Gene«, wandte ich ein. »Je nach der Mode.«
»Stimmt. Lange Zeit war man geneigt, den Eltern die Schuld zuzuschieben, besonders den Müttern, die dem Kind nicht genug Wärme geben, den sogenannten Kühlschrank-Müttern… Mir scheint es plausibler zu sein, dass es in den Genen angelegt ist.«
»Aber Autisten gründen gewöhnlich keine Familie, sie haben fast nie Kinder. Wie kommt es, dass Autismus dann zunimmt, anstatt abzunehmen?«
»Weil auf dem Gebiet sehr viel Forschung betrieben wird und wir die Fälle jetzt korrekter einordnen können.«
»Wenn das also immer so weitergeht, könnten wir zum Ergebnis kommen, dass mindestens die Hälfte aller Menschen Autisten sind oder dass wir mit der Zeit alle dazu werden…«
»Ach, hör doch auf!«
»Barnard, das mit den Genen bedeutet, wir, die Eltern, tragen die Schuld, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird. Schließlich sind es unsere Gene, wir kaufen sie ja nicht im Laden. Aus welchem Grund geben wir diesen Kindern keinen guten Stoff? Wir sind Gen-Dealer der übelsten Sorte. Warum?«
Wir holen die Harley und irren durch die Gegend, bis wir in einem Bezirk von Los Angeles landen, der ganz mexikanisch anmutet. Andrea geht vor mir zwischen den Marktständen hindurch und ragt weithin erkennbar aus der Menge heraus. Er schaut sich um, sucht mich, dann rennt er plötzlich los, quer durch die Leute, die ihm ausweichen, ohne sich gestört zu fühlen. Wie der Blitz saust er an dem buntgemischten Warenangebot vorbei, Hemden, Hüten, Gitarren, Chili, Obst. Es ist viel los hier, und doch spüre ich nicht die gleiche Hektik wie sonst an solchen Orten. Andrea ist vor einigen Jugendlichen stehen geblieben, die Karten spielen. Er verfolgt ihre Bewegungen, würde gern noch näher herangehen.
Die Einladung meines Freundes Lorenzo fällt mir wieder ein: »Komm, wag den Sprung nach Mexiko…«
»Andrea, sollen wir weiter nach Mexiko reisen?«
Diesmal hört er mir gar nicht zu, er ist mit anderem beschäftigt. »Was hältst du von Mexiko?«, dränge ich ihn. »Oder willst du nach Hause? Meinst du, es ist jetzt mal genug?«
Er
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