Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Jugendliche. Sie lieben den ganzen aus der Mode gekommenen Plunder, der an Tankstellen – die nichts weiter als verkappte Trödelmärkte sind – mit Schildern aus Zeiten des Kalten Krieges angeboten wird.
Rast in Seligman, großes Steak für Andrea, fish and chips für mich.
Vor dem Schlafengehen versuche ich, mich schriftlich ein bisschen mit ihm zu unterhalten.
Wie fühlst du dich heute?
Andrea rührt sich nicht, er ist in seinen Märchenwäldern auf Blaubeersuche gegangen.
Manchmal tut es weh, sich ausgeschlossen zu fühlen. Zu gern würde ich eine Lücke in dieser Dornenhecke finden, hindurchschlüpfen, um dann zu entdecken, dass er glücklich und zufrieden auf einer Lichtung spielt. Wäre das nicht auch für mich ein schöner Platz zum Ausruhen? Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass es eine unüberwindliche Grenze gibt. Dass Andrea unerreichbar ist.
Zuletzt antworte ich mir selbst, in der Hoffnung, richtig zu raten. Es ist, als führte man ein doppeltes Leben, eine Art nicht biologische Schwangerschaft. Andrea folgt meinen Sätzen und lächelt die ganze Zeit. Das heißt, es ist gut so. Hoffe ich jedenfalls.
Dann knipse ich das Licht aus. Gute Nacht.
Las Vegas
Die SMS kam unerwartet, mitten in der Nacht, ich sah sie erst am Morgen. Wenige Zeilen von Lorenzo, einem guten Freund, der vor etwa zehn Jahren nach Tulum entschwunden war, nach Mexiko.
Es ist nicht mehr weit bis hierher, schreibt er. Komm, wag den Sprung nach Mexiko. Aber nicht nur bis Tijuana, in der Nähe der Mauer träumen sie sowieso nur davon, Amerikaner zu werden. Hier, im Mexiko der Mayas, findest du noch ein bisschen Herz, da kann die ganze Menschheit spinnen, wie sie will. Hier kann man neu anfangen.
Ja, alle sehnen sie sich nach einem Neuanfang.
Der Pazifik rührt sich nicht. Er erwartet uns. Zieht uns an wie ein großer, flüssiger Magnet. Endlich ist Los Angeles ein erreichbares Ziel, auch wenn ein Zwischenhalt nötig sein wird.
Von kalifornischen Visionen und aufsteigenden Phantasien abgelenkt, bemerke ich nicht sofort die sonderbare Gestalt am Straßenrand. Andrea macht mir mit der Hand ein Zeichen: Ein Herr radelt durch die Wüste. Auf einem kleinen Fahrrad mit dicken Reifen. Er trägt einen Hut auf dem Kopf und hat eine keineswegs sportliche Figur. Den müssen wir unbedingt anhalten! Auf einer schmalen Piste aus gelbem Staub tritt er unbeirrbar zwischen den Sträuchern in die Pedale, wir bremsen, bis wir uns auf gleicher Höhe befinden.
»Noch nie habe ich in der Wüste jemanden auf dem Fahrrad gesehen«, schreie ich. Ich halte am Straßenrand, Andrea steigt ab und rennt dem Mann hinterher. Der Mann dreht sich um und schaut uns an.
»Wenn ihr häufiger in Wüsten unterwegs wärt, würdet ihr viele merkwürdige Sachen sehen«, sagt er. Kein einziger Tropfen Schweiß steht auf seiner Stirn. »Die Wüste ist der ideale Ort für Merkwürdigkeiten«, stellt er fest.
Als er merkt, dass Andrea ihn anschieben will, sagt er: »Achtung, junger Freund!« Andrea richtet sich schlagartig auf und hält die Luft an.
Mich fragt er: »Möchten Sie ein paar Dollar investieren?«
»Es kommt darauf an«, erwidere ich.
»Ich habe ein ganz tolles Projekt.«
»Hier in der Wüste?«
»Ich möchte ein Touristenhotel bauen. Kein Vergleich mit San Marcos in the Desert, das dieser Stümper von Frank Lloyd Wright sich ausgedacht hat. Der hatte keine Ahnung von der Wüste. Dieser Lackaffe!«
»Wie viel brauchen Sie?«
»Fünfzigtausend. Haben Sie das?«
»Nein.«
»Zwanzigtausend?«
»Auch nicht.«
»Wie? Da kommen Sie in die Wüste ohne einen roten Heller? Sie sind ja noch schlimmer als Wright – der war zwar ein Lackaffe wie Sie, aber wenigstens nicht mittellos! Aber vielleicht interessiert Sie ein Business mit Karamellpopcorn? Ich hab da ein paar Ideen…«
»Ich glaube kaum. Wohin fahren Sie denn?«
»Ich lasse den Lieferwagen immer hinten im Dorf stehen und fahre mit dem Rad weiter. Ein Leben lang hab ich in der Wüste gearbeitet, ohne halte ich es nicht aus. Ich fahre zur dicken Linda.«
»Linda?«
»Ein paar Meilen weiter vorn. Falls ihr anhaltet, sagt ihr, George ist unterwegs. Na ja, sie weiß sowieso, dass ich früher oder später komme.«
»Und wenn Ihnen etwas zustoßen sollte, unter dieser Sonne?«
»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck«, knurrt George, während er versucht, wieder loszuradeln.
Diesmal schiebt Andrea ihn am Rücken an.
Die Szene erinnert an die allerersten, unmöglichen
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