Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Männer und winzige Frauen, Herren im Wikingerkostüm, pausbäckige Wesen mit Schilddrüsenüberfunktion, ein Paar, das sich auf Akrobatenrädern das Jawort gibt, ein Bräutigam mit Fallschirm – der geht auf Nummer sicher, scheint mir.
Zum Atemholen setzen wir uns auf die Piazza San Marco, während rundherum Frauen als Gondolieri verkleidet auf einem Miniatur-Canal-Grande hin und her rudern. Die Touristen fotografieren die Schönheiten der Lagune, aus dem Baumarkt stammende Ziegelsteine ohne die Patina der Jahrhunderte, die das Original überzieht.
Nach zahlreichen Schlössern, Pyramiden, Palmen, Pharaonen, einem Dutzend Minnies, einem brasilianischen Karneval, einem Defilee von Harleys, einer Fußballmannschaft in Leuchtfarben wissen wir nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Wir haben mehr gesehen, als man aufnehmen kann. Ich zumindest.
Wir flüchten ins Bett, es ist späte Nacht.
Ein Kuss für die Braut
Die Stadt gleicht einem schlafenden Löwen. Las Vegas ohne Lichteffekte wirkt beinahe zahm.
Wir brummen zweihundertfünfzig Kilometer über einen Highway.
Völlig erledigt dösen wir unter einem der seltenen Bäume in der Nähe einer Tankstelle und blicken auf die flimmernde Weite, die uns umgibt.
Dann verkürzen wir die Reise nach Los Angeles um drei Stunden, indem wir durch einen Wald von gigantischen Leitungsmasten fahren, die ganz Kalifornien mit Elektrizität versorgen.
Wie ein Trichter schluckt uns der dichte Verkehr, vier- bis fünfspurige Straßen, wir verlieren die Orientierung und wissen nicht mehr, wo es langgeht. Also müssen wir auf das Navi vertrauen, das unser treuester Freund geworden ist und uns geradewegs nach Santa Monica führt.
Da sind wir. Einen Augenblick lang kann ich es nicht glauben, dass das Wasser vor uns der Pazifische Ozean sein soll.
Andrea klammert sich immer noch an mich, setzt keinen Fuß auf den Boden. Auch ich zögere. Hey, Andre, wir sind angekommen!
Ich überlege, wie wir das feiern könnten. Andrea streckt demonstrativ sein Grillenbein, als er vom Motorrad absteigt, und stellt sich sofort auf Zehenspitzen.
Wir drängeln uns durch eine bunt gemischte Menschenmenge, Asiaten, Orientalen, blonde Hünen und Soldaten auf Ausgang, bis wir direkt am Ufer stehen.
»Andre, das ist der Pazifische Ozean. – Pazifik, das ist Andrea. – Willst du ihm was sagen? War es einfach oder schwierig, bis hierher zu kommen?«
»Einfach.«
»Wer hat das Motorrad gefahren?«
»Ich.«
»Andre, sagen wir’s ganz offen: Wir sind tapfere Helden!«
»Helden, Papa.«
Er dreht sich einmal um sich selbst und führt dann einen kleinen Regentanz auf, ein spontanes Dankesritual.
Die Leute schauen uns an. Wir fragen, ob jemand ein Foto von uns machen kann. Todmüde, aber selbstbewusst stellen wir uns in Positur. Wir haben es geschafft, wir fürchten uns vor nichts.
Vor der Abreise war ich auch bei Barnard, unserem Hausarzt, und habe ihm erzählt, was Andreas behandelnde Ärzte zu mir gesagt hatten.
»Sie meinen, zu viele Veränderungen und zu viel Aufregung würden Andrea nicht guttun.«
»Schon möglich.«
»Möglich oder sicher?«
»Möglich. Der Mensch ist nicht so einfach gestrickt, dass man alles genau berechnen kann.«
»Aber wenn ich für Andrea nur das Beste will, soll ich ihn dann lieber vor der Welt schützen oder sie ihm zeigen, damit er sich sattsehen kann, was meinst du?«
Der Doktor sah mich zweifelnd an.
»Wie würdest du dich denn verhalten, wenn du so einen Sohn wie Andrea hättest?«
»Habe ich aber nicht«, seufzte er.
»Also muss ich allein zurechtkommen…«
»Manchen Patienten, die anfangen die Tage zu zählen, sage ich, dass es ihnen vielleicht helfen könnte, wenn sie ihr Leben verändern. Etwas zu verändern ist manchmal die beste Medizin. Doch fast niemand hört auf mich.«
Na bitte, Barnard, ich habe auf dich gehört.
Mit glückstrahlenden Augen betreten wir ein Hotel. Leider ist es ausgebucht, weil gerade eine große Messe stattfindet, keine Ahnung, welche. Also bitte, ständig diese Messen, sogar wenn die Helden kommen!
Sie raten uns, woanders zu fragen, okay, machen wir, ohne Rücksicht auf Verluste klappern wir alles ab, und zuletzt sind die Helden verdreckt und müde. Um ein Zimmer zu finden, müssen wir zwanzig bis dreißig Kilometer weit rausfahren, sagt man uns, oder es in den Luxushotels versuchen. Nun gut, wenn uns nichts anderes übrigbleibt, dann müssen wir eben unsere Ansprüche raufschrauben! Wir klopfen beim Ritz Carlton an, sehen
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