Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
voller spitzer Steine hinunter und spürte nicht einmal ein Kitzeln. Ich wollte ihm nachlaufen und musste nach wenigen Schritten aufgeben. Schmerz ist eine Alarmglocke, er warnt uns vor einer Gefahr, meldet uns, wenn eine Grenze überschritten wird. Vielleicht fühlt Andrea diese Grenzen nicht, weil die Alarmglocke nicht klingelt. Mir wird schwindlig bei diesen Gedanken. Ich presse mein Taschentuch auf seine Lippe, und als ich loslasse, blutet sie nicht mehr. Siehst du? Es vergeht.
Das Flugzeug beginnt zu sinken, wir nähern uns stetig. Unglaublich, dieses Gefühl, wie eins das andere ergibt. Wir steigen aus, das Gepäck geschultert – keine zwei Stunden später bewegen wir uns in einem anderen Universum: Um zehn Uhr abends sitzen wir auf einem wunderbaren Platz im Zentrum der Stadt bei Fleisch, Guacamole und Tequila, lauschen der Musik und atmen den Geruch Mexikos. Die Vereinigten Staaten liegen hinter uns. Mexiko ist eine andere Dimension.
Guadalajara
Am Morgen werden wir in den Straßen von Guadalajara mit Gitarrenmusik begrüßt, gespielt von einem Herrn in Begleitung seiner alten Mutter, die singt und in einem verbeulten gelben Töpfchen Almosen sammelt. Ein trauriges und zugleich liebenswertes Bild. Glut und Klage.
Für eine Pasteleria sind wir leichte Beute: endlich ein guter Espresso für mich und Süßes für Andrea. Ein Vorgeschmack auf einen weichen, mexikanischen Tag.
Für die Stadtbesichtigung leisten wir uns sogar eine Kutsche und fühlen uns so ähnlich wie die Amerikaner, die in Venedig mit der Gondel herumgeschippert werden. Ich frage den Kutscher, ob er ein zuverlässiges Reisebüro kennt, und er lädt uns vor einer Agentur ab, wo uns ein sehr liebenswürdiger Berater mit einem messerscharfen, wie mit dem Bleistift gezogenen Oberlippenbärtchen erklärt, Mexiko liege so günstig, dass man von hier aus überall leicht hinkommt.
»Auch nach Panama?«, frage ich.
»Vor allem nach Panama, Señor«, erwidert er, und bestimmt hätte er, wäre ich an Patagonien interessiert gewesen, ebenso beflissen geantwortet: »Vor allem nach Patagonien, Señor.« Das ist sein Job. Er sieht aus wie Zorro, merke ich, der Held aus der Fernsehserie. Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob er fechten könne. Er deutet auf einige Orte auf der Landkarte. »Mexico City interessiert mich nicht«, sage ich. Natürlich pflichtet er mir bei: »Die Hauptstadt ist wirklich sehr chaotisch. Aber hier, Acapulco, Puerto Escondido, ein Muss. Von dort könnten Sie nach Oaxaca fliegen, nur kurz in Mexico City umsteigen und von dort –«
»Von dort?«
»Wollten Sie nicht nach Panama?«
Ich hatte es nicht ernst gemeint, erwidere aber, dass es durchaus eine Möglichkeit wäre.
»Und Guatemala?«
Warum nicht? Lateinamerika steht uns offen, die einzigen Grenzen, die überwunden werden müssen, sind unsere Ängste. Zorro zeigt mir in allen Einzelheiten, wie man nach Panama kommt. Interessant, ich werde es mir überlegen. Für den Moment einigen wir uns auf einen Leihwagen bis Oaxaca, dann einen Flug nach Mexico City und von dort nach Antigua, Guatemala.
Glücklich schlendern wir durch die Straßen der Stadt, es geht uns richtig gut miteinander.
Marktstände, Waren, sogar eine Demonstration mit wehenden Fahnen. Zeichen von Vitalität, doch auch die Armut ist nicht zu übersehen – ich fürchte, sie wird uns überall begleiten. Ein ganzer Kindergarten bettelt auf der Straße, lauter kleine Bewohner des Gehsteigs. Acht-, neunjährige Buben bieten an, einem für wenige Pesos die Schuhe zu putzen. Ich drücke Andrea fünfzig Pesos in die Hand.
»Gib sie den beiden Herren da.«
Er zögert.
»Den zwei Barfüßigen.«
Der eine sitzt mit mageren, gelähmten Beinen im Rollstuhl, während sein Begleiter zu schwierigen Manövern gezwungen ist: Mühsam hebt er den Rollstuhl an und stellt ihn quer, um weiterzukommen. Ein Anblick, der weh tut: Männer von fünfzig oder sechzig Jahren, die sich Meter um Meter vorwärtskämpfen, als würden sie einen Berg besteigen. Sie sehen dich mit tiefen, dunklen Augen an. Ich beobachte, wie Andrea ihnen das Geld hinhält, er schaut sie nur ganz kurz an. Die beiden danken mit breitem Lächeln und tiefen Verbeugungen, bis wir aus ihrem Blickfeld verschwinden, so als hätten wir ihnen das größte Geschenk der Welt gemacht. Vier Euro!
Nachdem Andrea den Männern das Geld gereicht hat, überlässt er sich seinen Eigenheiten. Die Mexikaner betrachten ihn neugierig, während er hüpft, in die Hände klatscht
Weitere Kostenlose Bücher