Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
undurchdringlichen Gestalten macht. Wir sind in vergangene Jahrhunderte eingetaucht. Vielleicht geht meine Phantasie mit mir durch, doch mir ist es unheimlich. Mehrmals taste ich im Dunkeln nach Andrea, um mich zu versichern, dass er neben mir ist. Zerlumpte Menschen bitten uns um alles Mögliche. Besonders beeindruckt mich ein alter Mann, der nackt ist bis auf ein paar zerrissene Plastiktüten, die Hemd und Hose darstellen sollen.
Er sieht mich an: »He, Señor, guten Abend.«
»Guten Abend, wie heißen Sie?«
»Ich bin Batista.«
»Alles in Ordnung?«
»Gott sei Dank, alles in Ordnung.«
»Entschuldigen Sie, Señor, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber wenn man Sie so ansieht, würde man meinen –«
»Señor, es könnte noch schlimmer kommen. Wenn ich etwas zu essen hätte, ginge es mir allerdings besser. Man muss es ja nicht übertreiben mit dem Luxus, aber ab und zu…«
»Hier wird doch überall Fleisch und Brot zubereitet. Greifen Sie zu, ich lade Sie ein.«
Wir bleiben ein bisschen bei ihm. Er sagt, er sei dreiundvierzig, der Mann ist jünger als ich. Seine Haut ist wie trockenes Leder, und er hat so wenige Zähne, dass er wohl hauptsächlich von Luft leben muss.
Er kaut ganz, ganz langsam, um jeden Bissen auszukosten. Sein Blick ist verschleiert.
Andrea weicht mir aus, ich muss ihn ständig im Auge behalten. Heute hat er keinen guten Tag gehabt. Nicht das Tohuwabohu rundherum besorgt mich, sondern dass ich ihn nicht spüre, er ist verstörter als gewöhnlich, spricht kaum, fasst ständig alles an und zerreißt, was ihm in die Finger kommt.
Ich frage mich, ob die Welt, die wir gerade bereisen, nicht zu intensiv, zu überladen für ihn ist. Nordamerika war zum großen Teil leere Landschaft, und die Sinneseindrücke waren klarer, in gewisser Hinsicht einfacher. Das hier ist ein verschlungenes Universum, wer weiß, wie viele Empfindungen auf ihn einstürmen.
Wir gehen in unser Zimmer zurück, der Kamin wärmt. Vor dem Feuer hören wir Musik, ich umarme Andrea und gebe ihm einen Kuss: Gute Nacht, Andre.
Schamanen
Farben, Farben und nochmals Farben: Das ist der große Markt, den Vittorio uns versprochen hatte. Das Wetter ist strahlend, es hat zu regnen aufgehört, und man braucht keine Kiemen mehr: Die Erde ist wieder kompakt und fest unter unseren Füßen.
Um uns herum Menschen, die sich umarmen, sich zurufen, sich freundschaftlich begrüßen, ein Sinn für Gemeinschaft, den wir nicht kennen. Keine Aufregung, keine Hast, es sind einfache, bescheidene Leute, die mit ihrer Ware sorgsam umgehen und höflich miteinander reden, wenn sie etwas kaufen oder wissen wollen.
Angeregt von dem Gespräch bei Tisch gestern Abend, möchte Vittorio uns die Orte zeigen, wo die Schamanen ihre Riten zelebrieren. Da ist eine Kirche, in der man kleine Altäre, Lichter, Kerzenbündel erspähen kann. Unbekannte und unverständliche Gesten, große Spiritualität.
Ein sehr starkes Gefühl, auch Andrea ist beeindruckt.
Erfreut über unser Interesse, führt Vittorio uns einen Hügel hinauf. Der Weg ist gesäumt von Verkaufsständen und Tieren. Wir bewegen uns in einem Strom schweigender Menschen. Ich frage, ob wir an einem Ritual teilnehmen können. Vittorio ist sich nicht sicher, denn es ist spät, die Rituale finden normalerweise bei Sonnenaufgang statt und sind inzwischen zu Ende. Nur ein paar Spuren sind noch zu sehen: in sich versunkene Menschen, brennende Kerzen.
Vittorio will uns unbedingt einem Schamanen vorstellen. Ich habe keine Ahnung, wie ein Schamane aussieht. Vittorio spricht mit solcher Inbrunst von ihm, dass ich eine Art Staatschef erwarte, eine herausragende Persönlichkeit, elegant und schlicht, in einer vielleicht nicht luxuriösen, aber stilvollen Wohnung.
Stattdessen kommen wir zu einer kleinen Hütte, zwei Mal vier Meter, Schlamm und Steine – wir würden so was als Lagerraum nutzen, wie diese Schuppen auf dem Land, in denen man Geräte, Kartoffelkisten und Säcke mit Dünger verstaut. Vittorio lässt uns eintreten, wir bleiben an der Türe stehen und beobachten einen alten Herrn, der eine Frau behandelt wie bei uns früher die Wunderheiler. In liebenswürdigem Ton fragt er nach unserem Anliegen. Trotz seines bescheidenen Äußeren zieht mich die Intensität seiner Augen an wie ein Magnet, und ich sage spontan und aus vollem Herzen: »Ich möchte ein Ritual für meinen Sohn.« Der Schamane fixiert mich und gibt mir zu verstehen, dass er mir viele Fragen stellen muss. Ich spreche
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