Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Spanisch und er die Maya-Sprache. Vittorio übersetzt.
Wie heißt Ihr Sohn? Wann ist er geboren? Name der Mutter? Seit wann ist er so? Hat er Geschwister? Wovon ernährt er sich? Versteht er, was man ihm sagt? Malt er? Schreibt er? Schläft er viel oder wenig? Ist er ruhig oder gewalttätig? Lässt er sich umarmen?
Unwillkürlich blende ich Diagnosen, Klinikberichte, Medikamente und Elektroenzephalogramme aus. Ich erzähle direkt und einfach.
Der Schamane hört aufmerksam zu.
»Sprechen Sie als Vater über ihn…«
Der Satz überrascht mich. So sehr, dass ich weder nach Erinnerungen suche noch meine täglichen Schwierigkeiten mit Andrea benennen mag. »Ich habe ihn sehr lieb«, erkläre ich überzeugt, mit lauter Stimme.
Der Schamane wägt schweigend meine Worte. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, in dem überall seltsame Gegenstände und zerfledderte Bücher herumliegen: Ich lese einige Titel: Maya-Kalender, Das Buch der Schamanen, Das Höllenbuch, Das Buch des Okkulten, Die Schwarze Magie. Wo sind wir bloß hingeraten?
Dann wendet er sich mir wieder zu, um den Zeitpunkt des Rituals festzulegen: in zwei Stunden, auf dem Friedhof des Dorfes. Ich zucke zusammen. Auf dem Friedhof? Hat er Friedhof gesagt? Ich schaue nach allen Seiten, sehe erst Vittorio, dann Andrea an. Muss das sein? Die Friedhöfe werden hier wohl nicht so sein wie bei uns daheim, das ist klar, bestimmt herrscht hier eine ganz andere Auffassung, aber trotzdem bin ich in Verlegenheit. Doch der Schamane meint es völlig ernst. Vittorio zuckt nicht mit der Wimper. Andrea ebenso wenig.
»Andrea, wovor fürchten wir uns?«
»Vor nichts, Papa.«
»Dann machen wir es.«
Mit Vittorios Hilfe habe ich alles notiert, was wir für das Ritual brauchen: Eier, Zigarren, Zigaretten, Kerzen, verschiedene Öle, Schnaps, Parfum. Wir gehen los, um die Sachen einzukaufen, die dann verbrannt werden sollen. Sorgfältig wähle ich alles aus, die Eier müssen frisch sein, ich möchte lieber farbige Kerzen, ich erkundige mich nach der Qualität der Öle, nach den Zigarren- und Zigarettenmarken. Ich schnuppere an mehreren Parfums.
Nachdem wir zwei Tüten gefüllt haben, betrachte ich verwundert das bizarre Sammelsurium. Warum nicht? Ich denke an die zahllosen Versuche, die wir schon gemacht haben, um Andreas Situation zu verbessern. Nichts haben wir uns erspart. Wir haben bei der Schulmedizin angeklopft und sind, stets voller Hoffnung, auch ungewöhnlichere Wege gegangen. Ich kann die Misserfolge gar nicht mehr zählen, aber dennoch haben wir nicht den Mut verloren, sondern nach vorne geblickt. Was kann da ein weiteres Ritual schaden? Oder nützen? Wer weiß.
Bald ist es so weit. Im Gänsemarsch wandern wir langsam hügelan zum Friedhof, und ich merke, dass wir uns keinem Ort der Traurigkeit nähern. Das hier ist nicht nur ein Grundstück, das die Knochen derer beherbergt, die einst gelebt haben. Die Toten dominieren vom Gipfel des Hügels das ganze Umland. Der Friedhof ist ein kleines Dorf mit Straßen und Gärten und bunten Altären. Viele Menschen drängen sich um die kleinen Wohnstätten der Toten, andere nehmen an den Ritualen teil, die überall zelebriert werden, und erfüllen die Luft mit Gesängen und rituellen Gebeten. Ab und zu hört man einen Knall, Feuerwerkskörper werden gezündet, die Menschen zucken zusammen, ohne zu erschrecken. Wir sind in eine surreale Atmosphäre eingetaucht.
Vittorio führt uns zu dem Schamanen. Sehr viele Leute grüßen ihn und küssen ihm die Hände. Er zeigt keinerlei Überheblichkeit, im Gegenteil, er hat für alle eine freundliche Geste, ein freundliches Wort. Er ist heiter und gelassen. Er lächelt uns an und gibt uns durch Vittorio zu verstehen, dass wir vor seinem Altar meditieren sollen. Den Kopf leeren. Ich weiß nicht, ob Andrea das hinkriegt, ob er tatsächlich diese Achterbahn bremsen kann, auf der seine Gedanken unterwegs sind. Leise flüstere ich: Andrea, Kopf leeren. Dann schweigen wir. Der Schamane zündet ein Feuer an und legt nach und nach die Sachen darauf, die wir mitgebracht haben. Etwas knistert in den züngelnden Flammen, der Schamane beginnt zu beten. Er segnet uns gewiss hundert Mal. Ich befürchte, dass der Überfluss an Segen von einer gewaltigen Anstrengung zeugt, wir sind offensichtlich ein schwieriger Fall. Er benetzt Andreas Haar mit den Parfums und will, dass ich ihm die Hände auf die geschlossenen Augen lege. Ich fühle seine Wimpern zucken. Dann fordert er mich auf, eine
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