Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
unter Wasser stehenden Gehsteig entlangmarschieren. Dabei fällt er unweigerlich einem jungen Mann auf, der sich anbietet, uns das Dorf zu zeigen. Der Junge flößt mir instinktiv Vertrauen ein, vielleicht brauchen wir ihn.
Unser improvisierter Reiseleiter führt uns zu einer Bude, wo wir ein Brötchen essen: Kauen löst meine Anspannung ein wenig. Er erzählt uns von einem vor wenigen Monaten niedergegangenen Bergsturz, der alles zerstört und viele Menschen getötet hat, darunter auch viele Kinder. Auch seine Schwägerin und ihre sechs Kinder sind umgekommen. So viel Unglück kann man gar nicht glauben, man möchte fast hoffen, dass er Lügen erfindet, Lügen für uns Touristen aus der reichen Welt.
Ein wenig niedergeschlagen beschließen wir, nach Chichicastenango weiterzufahren, eine Stadt, die für ihren Markt berühmt ist und auch sonst noch einiges zu bieten haben soll.
Wir fragen nach dem Weg: Bis Chichicastenango sind es drei Stunden, heißt es, später dann eine Stunde und nach ein paar Dutzend Kilometern auf einmal vier Stunden. Es ist verwirrend, jeder sagt etwas anderes, niemand will zugeben, dass er es nicht weiß, und behauptet einfach das Erste, was ihm einfällt: Sie reden drum herum, es klingt, als würden sie den Raum Handbreit für Handbreit vermessen, sie fragen dich, wie schnell dein Auto fährt und ob du es eilig hast. Vielleicht handelt es sich um eine lateinamerikanische Besonderheit: Jedes Mal, wenn jemand eine Ortschaft erwähnt, verändert sie ihre Lage. Nachmittags um vier ist sie acht Kilometer entfernt, um fünf dagegen dreißig Kilometer, Uhr und Orte laufen unentwegt hintereinander her.
Bei Dämmerung erreichen wir Chichicastenango, und auch hier kommt uns sogleich ein junger Mann entgegen. Man erkennt uns von weitem. Viele Jugendliche warten auf Touristen, um ihnen ihre Dienste anzubieten. Unser Guide stellt sich vor: Er heißt Vittorio, ist achtzehn Jahre alt und ein direkter Nachfahre der Mayas. Er ist sehr nett, zeigt uns rasch ein Hotel, wo wir auch zu Abend essen können, und schlägt einen gemütlichen Spaziergang zum Markt am nächsten Morgen vor. Er findet für alles eine Lösung, und das an einem Ort, wo wir uns zum ersten Mal verloren fühlen.
Das Hotel, das Vittorio uns besorgt hat, ist ein Kloster aus dem achtzehnten Jahrhundert, majestätisch und elegant, und der Innenhof gleicht einem prächtigen Gewächshaus mit seinen Kaskaden blühender Bougainvillea und den frei fliegenden, bunten Papageien. Flügelschlagend plustern sie sich auf, dann drehen sie den Kopf und beäugen uns. Zwischen zwei Reihen steinerner Mönche steigen wir die Treppe hinauf. Im Zimmer gibt es sogar einen Kamin, der für die Nacht angeheizt wird. Es ist ein angenehmer, seltsamer Ort, wir werfen unsere Rucksäcke aufs Bett, und sofort verbessert Andrea die Schieflage der Kissen.
Der ungewisse Straßenzustand veranlasst mich, Auskünfte über die Route einzuholen, die ich für den nächsten Tag auf der Landkarte herausgesucht hatte. Einer der jungen Leute an der Rezeption, Guillermo, spricht ein wenig Italienisch. Als Zweitjob arbeitet er als Touristenführer und rät mir von unserem beabsichtigten Besuch der Maya-Tempel ab, weil die Überschwemmung die Straße unpassierbar gemacht habe. Er hat etwas Vertrauenerweckendes. Er empfiehlt uns, das Programm zu ändern, und zuletzt gehen wir alle zusammen essen: Andrea, ich, Vittorio und Guillermo.
Andrea spielt den Kellnern alle möglichen Streiche, während wir von den Mayas sprechen, die an diesem Ort tiefe Spuren hinterlassen haben. Ich höre Geschichten von Vulkanen und Erdbeben, von Guerillakämpfern und von antiken Lebensweisen.
Die Wörter für »Messer«, »Teller« und »Wasser« in der Maya-Sprache klingen vollkommen fremd. Vittorio erklärt uns, dass die Alten im Dorf nur diese Sprache sprechen. Vor allem die Schamanen. Ich staune: Schamanen? Gibt es die noch? Die beiden jungen Männer ereifern sich: Allein in Chichicastenango sind es mehr als dreihundert. Jeden Tag vollziehen sie Rituale an verschiedenen Orten.
Als wir vom Tisch aufstehen und in die schwarze Nacht hinaustreten, stimmt Vittorio in der Maya-Sprache einfache Trauerlieder an. Es gibt überhaupt kein Licht, weder Mond noch Sterne. Nur am Boden flackern ein paar kleine Feuer, improvisierte Kochstellen, auf denen das Essen für den morgigen Markt zubereitet wird. Der feine, anhaltende Regen zwingt die Menschen, mit Kapuze herumzulaufen, was alle, denen wir begegnen, zu
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