Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
kleine Buchten zum Atemholen. Oder vielleicht wirkt schon die Aussicht, einen lieben Menschen wiederzusehen, wie Balsam für die Seele, und das genügt.
Mehrmals versuche ich, bei der Nummer anzurufen, die Lorenzo mir geschickt hat. Er antwortet nicht, und mir wird klar, dass ich nicht gerade viele Angaben besitze, um ihn aufzuspüren: den Namen eines Ortes und eines Hotels, das neben seiner Wohnung liegen müsste. Präzise wie immer. Inzwischen ganz unser Stil.
Ich wette mit Andrea, dass wir ihn finden.
»Finden wir Lorenzo?«
»Nein.«
»Was soll das heißen, nein? Was machen wir denn, wenn wir ihn nicht finden?«
»Baden im Meer.«
Ausgezeichnet.
Wir steigen aus dem Bus aus und haben keine Ahnung, in welche Richtung wir gehen sollen. Zur Not schlagen wir uns eben nach Cancún durch, dort gibt es einen Flughafen. Die Leute, die uns stocksteif an der Bushaltestelle stehen sehen, beobachten uns, ich frage nach dem Weg, ernte aber nur Kopfschütteln, niemand hat eine Ahnung, wo der Ort liegt, den wir suchen. »Wenden Sie sich an einen Taxifahrer«, rät mir ein Herr mit großem weißem Hut. Prima Idee! »Und wo finde ich einen Taxifahrer, Señor?«
Er weiß es nicht. Na dann…
Andrea, wir brauchen unbedingt einen Taxifahrer. Wir durchkämmen die Straßen und finden ein Taxi hinter einer Reklametafel. Der Fahrer schläft selig.
Auch er hat noch nie etwas von dem Ort gehört, den ich ihm nenne. Andrea umkreist in der Zwischenzeit das Taxi wie ein Streifenpolizist. Pflichtbewusst stellt der Mann eine kleine Untersuchung an, klingelt an einigen Türen, geht in mehrere Lokale und erfährt, dass es vielleicht, wahrscheinlich, wer weiß, etwa zwanzig Kilometer weiter ein Sträßchen gibt, das zu dem fraglichen Hotel führen könnte. »Vamos, Señor?«
»Vamos.«
Ein Glückstreffer. Es ist das gesuchte Hotel. Zusammen mit seiner Frau und ein paar italienischen Freunden sieht Lorenzo zwei Wanderer mit Rucksack und einer Tasche voll schmutziger Wäsche aufkreuzen. Sie reißen die Augen auf: So eine Überraschung!
Umarmungen, Begrüßung, Komplimente. »Seid ihr müde?« Das Haus ist wunderschön gelegen. Lorenzo und seine Frau helfen uns sogar beim Auspacken, und anschließend begleiten sie uns an den Strand, das ist die beste Art, sich von der Anstrengung zu erholen.
Im Sand schlafe ich beinahe ein und verliere mich in Tagträumen.
Andrea planscht im Wasser. Er hält ein dunkles Arzneifläschchen in der Hand und schwingt einen großen Kupferlöffel.
»Willst du ein bisschen Sirup, Papa?«
»Sirup?«
»Er schmeckt gut.«
»Ich brauche keinen Sirup.«
»Einen Löffel voll Ichgehweg-Sirup. Willst du ein bisschen Ichgehweg?«
»Nein! Nein…«
Ich wache auf, und herrje! Ich würde so gern ganz frei mit Andrea sprechen, drauflosquatschen ohne Punkt und Komma, über Hotdogs und Ketch-up, Zebrastreifen und kaputte Scheinwerfer, auch über die Pubertät möchte ich gern reden und wie er sie im Autismus eingesperrt erlebt, ich würde gern von ihm selbst erfahren, wie es ihm geht, ohne es mir von den Ärzten erzählen zu lassen oder einfach nur vorzustellen, erfahren, welche Wünsche und Begehren ihn umtreiben.
Tulum
Häuslichen Alltag genießen: ein ausgezeichneter Grund für einen Umweg, falls man bei dieser kurvenreichen Reise überhaupt von Umweg sprechen kann. Das hat sich Lorenzo schon gedacht: »Ich wusste, es würde euch guttun, euch mal ein paar Tage in einem schönen Haus auszuruhen. – Einem Kurhaus«, fügt er lächelnd an. Wir kennen uns schon sehr lange, auch wenn Lorenzo Italien vor Jahren verlassen hat und wir uns nur durch den Äther hören.
»Einem Irrenhaus?«, flachse ich, und es sollte natürlich ein Witz sein, aber Lorenzo bleibt ganz ernst, ich finde, er hat sich verändert, natürlich, man verändert sich, auch er wird denken, dass ich mich verändert habe. Im Brustton der Überzeugung behauptet er, ein Freund müsse die Bedürfnisse des Freundes im Voraus spüren, und wenn er auf unserer Reise für irgendetwas tauge, dann dafür, dass wir uns bei ihm wie zu Hause fühlen.
Wie zu Hause, das Angebot nehmen wir gerne an! Man hört keinerlei Geräusche, doch als wir aufstehen und zum Frühstück herunterkommen, finden wir den Tisch in der Küche schon gedeckt, Lorenzos Frau wärmt die Milch, eine Espressokanne blubbert, Lorenzo sucht im Kühlschrank nach Butter und Marmelade für das geröstete Brot, zwischen Tellern und Tassen stehen ein Strauß gelber Blumen und Gläser mit
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