Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Gebrauchsanweisung ein bisschen zu kennen.
Ich lächle, das sage ich mir auch immer, wenn ich mal allein zu Hause bin und plötzlich frei entscheiden kann, ob ich mit Freunden ausgehen oder auf dem Sofa liegen will: zu einfach, das Leben, ohne Andrea!
»Die Normalos«, fährt sie unerschütterlich fort, »ertragen die Verschiedenheit nicht, wie alle, die es sich zu einfach machen. Sie verstehen überhaupt nicht, was es bedeutet, sich im Leben so zu verausgaben, dass dabei unterm Strich eine rote Zahl herauskommen muss, was es bedeutet, dass man ständig vor neuen Hürden steht. Na ja, eigentlich können sie einem auch leidtun, die Normalos, manche Hindernisse im Leben wissen sie einfach nicht zu schätzen, weil sie dauernd so hochkreative Sachen zu tun haben wie Raten abbezahlen, Konflikte schüren, ein paar Bomben auf Japan werfen, eine Reihe religiöser Vernichtungskriege führen – haben Sie etwa je einen autistischen Jungen gesehen, der ein Massaker, einen Betrug, die Unterdrückung von seinesgleichen anordnet? Können Sie sich eine Aktionärsversammlung oder eine Parlamentssitzung vorstellen, in der alle Teilnehmer Autisten sind? Ist Ihnen klar, wie viel weniger Schaden dann angerichtet würde?
Man ist sich ja nicht einmal einig, wie man sie bezeichnen soll, solche wie Ihren Sohn: Behinderte, Menschen mit Handicap… jede Menge Euphemismen. Ich finde, es wäre klarer, das Wort ›Unselbständige‹ zu benutzen. In dem Sinn, dass sie von jemandem abhängig sind, der eine mehr, der andere weniger, so wie weltweit Millionen unselbständiger Arbeitnehmer vom Arbeitgeber. Nur dass diese speziellen Unselbständigen nie in Rente gehen und auch keine Gewerkschaft haben, die sie verteidigt, keine Zunft, die die schützt. Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass die Unselbständigen die Kontrolle über den Planeten ausüben sollten. Es würde ihnen schon reichen, sich etwas weniger anstrengen zu müssen, ein paar Tage Urlaub zu haben und womöglich auch mal eine kleine Anerkennung zu bekommen.«
»Also befassen Sie sich doch mit Menschenrechten!«
»Nein, ich befasse mich mit anderen Dummheiten.« Auf einen Zug leert sie das Glas, das sie mitgebracht hat. Es muss sich um ein hochprozentiges Getränk handeln. Mit der gleichen Mühe, mit der sie hinaufgeklettert war, rutscht sie von dem Stuhl hinunter, zwinkert Andrea zu und sagt, wir sollen doch mal in Bilbao vorbeikommen.
»Ciao, italiani…«
Wir kehren an den Strand zurück. Ehrlich gesagt, kommt uns die Energie in Belize nicht so geballt vor wie anderswo. Es ist ein Ort, so durchlässig wie Luft, du durchquerst ihn, und er hinterlässt keinen Eindruck. Immerhin hat eine Zwergin für die Erweiterung des Horizonts gesorgt.
Morgen reisen wir ab. Morgen fahren wir nach Tulum.
Ichgehweg
Wir werden mit dem Bus nach Tulum fahren, aber vorher müssen wir uns nach Chetumal einschiffen und die mexikanische Grenze passieren, hoffentlich wird es nicht zu chaotisch. Alles klar. Ich öffne die Augen erst, als ich überzeugt bin, alles gut geplant zu haben.
Es ist noch früh. Ich reiße die Fenster auf, Meeresgeruch und erstes Tageslicht dringen ins Zimmer. »Raus aus den Federn!«, sage ich zu Andrea, der sich auf die andere Seite dreht. Wir müssen uns beeilen, das Boot wartet bestimmt nicht auf Faulpelze. Und es ist unglaublich: Andrea steht auf und erledigt alles ganz zielgerichtet. Er verliert sich in keinem seiner Rituale, macht nichts auf und zu, sondern ist vollkommen präsent. Wir frühstücken in aller Eile und erreichen den Landungssteg so zeitig, dass wir uns direkt neben dem Kommandanten des Boots niederlassen können. Eine Stunde unbeschwerte Seereise, mit Sonnenbad und Wellenschaukeln. Andrea ist überglücklich, er lacht vergnügt und steckt mich an, wir umarmen uns oft. Wäre unser Leben doch immer so…
Auf der Mole von Chetumal erledigen wir rasch die Zollformalitäten, kein Problem, außer den Beamten, die Andrea ständig überwachen. Der Bus nach Tulum fährt schwankend und pünktlich ab, die Tür bleibt ein wenig offen, wodurch ein angenehmer Luftzug hereinweht. Unsere Mitpassagiere sind in Gedanken versunken, als wäre die Reise von hier nach dort auch eine Lebensentscheidung, etwas Wichtiges, eine Herausforderung.
Wir fahren nach Tulum, weil uns Lorenzo wiederholt und mit großer Herzlichkeit zu sich nach Hause eingeladen hat. Es ist schön zu wissen, dass es auf dem riesigen Kontinent, den wir durchqueren, Inseln der Freundschaft gibt,
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