Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
während der Mann beginnt, sein Leben zu erzählen, angefangen bei der Erstkommunion. Mit der Frage, wie man am besten von hier nach Tulum kommt, gelingt es mir, ihn zu unterbrechen.
»No problem!« Und nach kurzem Nachdenken: »Ihr nehmt ein Boot nach Punta Gorda und von dort den Bus nach Belize City, oder nein, halt, ich empfehle euch dem Kommandanten eines Schiffs, das direkt in Belize anlegt, Zoll no problem, und außerdem gebe ich euch die genauen Angaben, wo ihr ein Privatflugzeug mieten könnt, das euch nach San Pedro bringt, auf Ambergris Caye. Die Insel muss man gesehen haben.«
So, muss man das?
»Das sagt euch ein Landsmann, mir könnt ihr vertrauen! Seid unbesorgt.«
Andrea hat eine pompöse Speisekarte ergattert und will sie mitnehmen. »Nein, die wird nicht zerrissen, Andre«, sage ich zu ihm.
Morgen Abend verlassen wir Livingston. Ricardo mit den Rastalocken ist nunmehr unser Bruder. Er besteht darauf, dass wir seine Familie kennenlernen. Sie behandeln uns wie Respektspersonen, wir schütteln Dutzende von Händen, lächeln mit den Augen, erhalten Glückwünsche für alle denkbaren Gelegenheiten. Gegen Zahnschmerzen und Knochenschmerzen. Und einen Schmerz, von dem ich nicht begriffen habe, wo er sitzt.
Und sie lassen mich unsäglich viel trinken.
Die Stufen von Venedig
Volle drei Stunden stehen wir auf der Mole und warten darauf, dass das Boot endlich beschließt abzulegen. Von neun bis mittags um zwölf. Stehen ist bezogen auf Andrea ein gewagtes Wort: Kreuz und quer rennt er am Rand der Mole entlang, und vor Angst, dass er ins Wasser rutscht, trifft mich mehrmals beinah der Schlag. Er dagegen ist die Ruhe selbst, er bewegt sich mit der Sicherheit eines Seiltänzers, betrachtet dabei den Himmel und unsichtbare Horizonte. Er schießt los und hält im letzten Moment schwankend inne. Ich ertrage es nicht mehr: Ich fange ihn ein und halte ihn fest. »Warum fahren wir denn nicht endlich?«, frage ich alle, die vorbeikommen. Schuld ist die Emigration, der Kapitän, der Zoll. Zuletzt ist niemand schuld, und auf geht’s.
An Bord sind Andrea und ich, zwei Deutsche, zwei blonde Mädchen, von denen ich nicht weiß, aus welchem Land sie kommen, und ein Dutzend Belizer, groß, dick und nicht sehr freundlich. Abweisend schauen sie uns an und tuscheln eifrig, meiner Ansicht nach reden sie über uns, die Touristen. Vielleicht haben sie gute Gründe, vielleicht wirken wir ja unsympathisch.
Nach der Zollkontrolle nehmen wir ein Taxi zu dem kleinen Flughafen, wie uns der Italiener aus Livingston geraten hat. Wir buchen einen Flug um sechzehn Uhr und essen in einem Restaurant im Zentrum zu Mittag. Es gibt Fisch, unwillkürlich denke ich an Puerto Escondido, aber ich habe Vertrauen. Andrea nimmt Fleisch und Kartoffeln. Cola und Bier.
Das Flugzeug ähnelt einem Kleinwagen, einem alten Fiat 500, ich sitze neben dem Piloten und Andrea hinten. Es startet wie ein schüchternes Vögelchen, hebt ab und lässt sich vom Wind helfen. Unter uns Flüsse und Urwald, wie eine Spielzeuglandschaft; ich drehe mich nicht zu Andrea um, denn ich fühle, dass er reglos dasitzt und sich von der schlingernden Bewegung wiegen lässt, diesen Augenblick schweigender Hingabe möchte ich nicht stören. Wohlbefinden breitet sich aus. Dann setzen wir ruckelnd zum Sinkflug an, die Flügel durchschneiden die Luft, wir landen in Belize City. In lärmender Gesellschaft steigen wir wieder auf, weitere sieben Passagiere sind zugestiegen, die wie wild fotografieren. Es ist eine Befreiung, in San Pedro auszusteigen.
Die Insel ist allerdings sehr touristisch, zu sehr, und dadurch steigen unsere Ansprüche, wir meiden die grellsten Unterkünfte, kein Hotel will uns so recht gefallen, bis wir schließlich eines von nüchterner Eleganz direkt am Strand finden. Am Abend, bei einer Pizza, umarmt und küsst Andrea zwei junge Belizerinnen so selbstverständlich, dass es einem ganz normal vorkommt. Die Mädchen erkundigen sich, ob auch er, wie der Protagonist aus Rain Man, eine Unmenge Daten im Gedächtnis speichern oder astronomische Berechnungen anstellen kann. Die Frage wird oft gestellt, viele Leute haben diese Vorstellung von Autismus. Wir lassen uns darauf ein und prahlen wie zwei Aufschneider im Zirkus: Ich erzähle von Italien und von Venedig und behaupte, dass Andrea und ich, dank seiner Begabung, an einem wichtigen Projekt arbeiten: alle Stufen der Brücken Venedigs zu zählen. Falls dann eines Tages ein Bösewicht eine stehlen sollte,
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