Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
würden die Behörden es dank unserer Studie sofort merken. »Wir sind die Retter der Stufen von Venedig«, sage ich. Die Mädchen lachen belustigt, vielleicht auch, weil wir tatsächlich wie zwei fahrende Gaukler aussehen. Wir sind zerzaust und ein bisschen müde. Andrea blickt mich rasch und forschend an, mit diesen leuchtenden Augen, die tausend Dinge ausdrücken wollen.
Wir verlassen das Lokal, und er wirkt so selbstsicher, dass ich mich seiner Führung anvertraue.
»Wo liegt das Hotel, Andre?«, frage ich.
»Da unten.«
»Rechts oder links?«
»Rechts.«
Ich folge ihm und lasse ihn an jeder Gabelung die Richtung wählen. Er entscheidet immer sehr schnell. Manchmal scheint es mir richtig zu sein, dann wieder vollkommen abwegig, und allmählich habe ich das Gefühl, dass wir uns verirren. Dreimal hintereinander landen wir an ganz unglaublichen Orten.
»Und jetzt? Wie kommen wir jetzt zum Hotel zurück?«, schreie ich, weil ich den Weg nun wirklich nicht mehr finden würde. Andrea aber geht entschlossen los. Ich folge ihm ohne Widerrede. Er hat Landkarten im Kopf, und trotz einiger für mich unlogischer Umwege erreichen wir das Hotel. Nicht immer ist es nötig, zwischen zwei Punkten eine gerade Linie zu ziehen…
Manchmal aber schon. Unvergesslich das Konzert von Vasco Rossi, fünfzigtausend Leute in einem riesigen Park. Einen Augenblick lang lauschen wir versunken einem Lied, und plötzlich ist Andrea verschwunden. Wir suchen ihn, ein Freund und ich, bahnen uns mühsam einen Weg durchs Gedränge und verlieren sehr bald jede Orientierung. Als das Konzert schon halb vorbei ist und wir völlig entmutigt umherirren und den Freunden, die auf uns warten, SMS schicken, sehe ich plötzlich Andreas Kopf aus der Menge ragen: Unbeirrbar wie ein Zug auf dem Geleis schiebt er die Menschen auseinander und zieht eine vollkommen gerade Linie. Wir laufen hinter ihm her, und er führt uns mit geometrischer Präzision zum Ausgangspunkt zurück.
Belize
Grantig sind sie, die Leute in San Pedro. Man hatte uns vorgewarnt, deshalb wundern wir uns nicht groß darüber. Das Meer ist nicht berauschend, vielleicht sind wir auch nicht in der richtigen Stimmung, jedenfalls wird der Tag grundlos grau, und wir bleiben die ganze Zeit träge am Strand. Imbisspause an einem Kiosk.
Jemand hinter uns fragt uns auf Spanisch:
»Italiener oder Franzosen?«
Ich drehe mich um und erkenne nicht gleich, wer uns angesprochen hat, ich schaue zur Theke und übersehe dabei eine Reihe niedriger, zum Strand hin gewandter Stühle.
»Ihr seid doch Italiener«, höre ich, und dann erst sehe ich sie: eine sehr klein geratene Frau, geradezu eine Zwergin. Mit breitem Lächeln und weißem Badeanzug sitzt sie da und trinkt etwas. Sie bemerkt meine Überraschung, erhebt sich und kommt an unseren Tisch.
Andrea ist leicht verblüfft, dann umarmt er sie und hebt sie fast hoch.
Die Frau strampelt ein bisschen, so dass ich rasch eingreife, um sie zu befreien.
Sie heißt Manuela, ist eine Rechtsanwältin aus Bilbao, hier halb in Urlaub und zu einem Viertel in besonderer Mission unterwegs.
»Und das restliche Viertel?«, frage ich.
»Das nutze ich für biologische Standardaktivitäten.«
Ich versuche herauszufinden, womit sie sich beschäftigt, und sie antwortet:
»Nicht mit Menschenrechten.«
»Weil wir mehr als genug davon haben?«
Die Rechtsanwältin lacht.
»Was hat Ihr Sohn?«
»Er leidet an Autismus.«
»Bei meiner Statur dürfte ich so was ja gar nicht sagen, aber: Pech muss der Mensch haben.«
Ich erstarre, und sensibel, wie sie ist, merkt sie es sofort.
»Nein, meine Äußerung ist nicht diskriminierend!«
»Ach nein?«
»Hören Sie, würden Sie nicht gern an einem Knochen nagen, wenn Sie ein Hund wären?«
»Ich glaube schon.«
»Aber stattdessen geben dir die Menschen dieses stinkende Zeug aus der Dose, oder dieses Trockenfutter, das dir so in der Kehle brennt, dass du eine Halbe Bier kippen möchtest, selbst wenn du ein ehrlicher Haushund bist. Verstehen Sie, was ich meine? Es geschieht zu unserem Besten. Sie lieben dich, ziehen dich groß und verwandeln dich, so wirst du gezwungen, Sachen zu akzeptieren, die dir schaden. Verstehen Sie, mit welcher Art von Normalität wir anderen es zu tun haben? Einschließlich Hunde, natürlich.«
Sie stürzt sich in einen lebhaften Vortrag über Normalität, darüber, dass sie reine Konvention sei und dass Normalsein auf der qualitativen Ebene gar nichts bedeute: Es bedeute nur, die
Weitere Kostenlose Bücher