Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
sind Leben pur, sie stehen da mit ihren Wurzeln, suchen sich Wasser, nutzen das Licht. Kein Filter – das Leben, wie es kommt, direkt. Seltsam, seltsam, das Leben pur.
Plötzlich tauchen Hängebrücken vor uns auf, ein Wildbach tost unten in der Klamm, und bevor wir sie überqueren, bitten wir die Geister um ihren Schutz. Einheimische, die zu Fuß unterwegs sind, halten uns an, bereitwillig nehmen wir sie ein Stück mit. Sie helfen uns, die holperigsten Straßen zu meiden und die geradeste Strecke zu fahren, die immer noch kurvenreich genug ist. Ohne Scheu erzählen sie aus ihrem Alltag, ganz beiläufig, als könnte uns das wirklich nicht interessieren, als würden sie ihre Geschichten einfach vor sich hin sagen. So rumpeln wir über die Sträßchen und erfahren dabei von Hoffnungen auf ein kleines Geschäft, von der Geburt eines Enkels, vom Kauf eines Hörgeräts aus zweiter Hand. »Aber ich muss es wohl segnen lassen, Señor, wer weiß, welche Flüche es im vorigen Ohr gehört hat.« Niemand weiß etwas Genaues über Panama, das sei ein anderes Land, sagen sie, wo alle stehlen und man den Taxifahrern nicht trauen darf.
Wir erreichen Jaco, wieder an der Pazifikküste. Allmählich wird es dunkel, wir brauchen unbedingt eine Unterkunft für die Nacht und finden ein einfaches Hotel, sehr preiswert und sehr sauber. Nicht weit davon gibt es ein argentinisches Restaurant. Während ich mich nach einem Tisch umschaue, erforscht Andrea das Lokal. Er klatscht in die Hände und läuft ans Ende des Raums, wo ein Mädchen mit einem Korb Palmblätter an einem kleinen Tisch sitzt. Mit ihren geschickten Fingern zaubert sie daraus flink kleine Gegenstände. Ohne innezuhalten, schaut sie Andrea an. Sie zeigt ihm einen geflochtenen Schmetterling, dann, als er nicht reagiert, holt sie noch mehr geflochtene Tierchen unten aus dem Korb. Plötzlich fasst Andrea ihr an den Bauch, sie schreit leise auf, doch Andrea lässt sich nicht beirren. Ich bin wenige Schritte entfernt und teile ihr Andreas Problem mit.
Sie möchte wissen, was Autismus ist. So sonderbar es klingen mag, aber auf Spanisch fällt es mir leichter, es zu erklären, als in meiner eigenen Sprache: Er ist in sein eigenes Universum eingeschlossen, auf seine Art weiß er um unsere Welt und möchte gern Beziehungen anknüpfen, aber seine Brücken führen ihn anderswohin.
Ich lade das Mädchen an unseren Tisch ein, Andrea lächelt selig. Sie bemüht sich, mit ihm zu sprechen. Sie ist 1993 geboren, im selben Jahr wie Andrea, sogar im selben Monat. Schließlich verkündet sie, dass sie ein Segelboot für uns flechten möchte. Da werden wir staunen! Und wie durch ein Wunder gelingt es ihr, obwohl Andrea sich an ihren Arm schmiegt. Schweigend starren wir auf ihre Finger, die feinen Nadeln und Pinzetten gleichen: Sie fahren durch die Blätter, die sich verflechten, der Schiffsrumpf taucht auf, dann ein Großmast voller Segel, unten breit und oben winzig. Das Segelboot wiegt so gut wie nichts, fast schwebt es in der Luft. Sie stellt es in der Mitte des Tisches auf. Dann bleibt sie noch ein wenig bei uns sitzen, Andrea hebt das Boot hoch und lässt es segeln, greift danach und schickt es wieder los, ein unwiderstehliches Spiel; schließlich überschüttet er sie mit Küssen. Das Mädchen ist hingerissen: Wer weiß, was dieser Kavalier ihr als Nächstes bieten wird. Doch auf einmal steht er auf, geht weg, schlendert durch das Lokal. Als er zurückkommt, widmet er sich der Süßspeise, als sei das Mädchen gar nicht vorhanden. Sie weiß nicht, was sie tun soll, und geht.
Andrea bleibt – wieder einmal – allein.
Hotel Iguana
»Krokodilswolken, Señor.«
»Wolken?«
»Wolken. Und eine Stadt wie vor hundert Jahren.«
Man erzählt uns so viel Gutes über Puerto Jiménez, dass wir beschließen hinzufahren.
Es regnet, erst gegen elf Uhr kommt die Sonne ein wenig heraus. Wir entdecken, dass heute der 15. August ist, Mariä Himmelfahrt, und gehen zur Feier des Tages an einen herrlichen, fast menschenleeren Strand zum Baden. Zur Lockerung mache ich auf dem Sand einen Dauerlauf.
Als wir wieder aufbrechen, fallen ein paar Tropfen, die ein heftiges Gewitter ankündigen. Das Autofahren wird sehr anstrengend. An der soundsovielten Polizeisperre müssen wir das Auto ausräumen und werden gefilzt. Die Hunde beschnuppern uns wie Suppenknochen, und die Polizisten sind schroff und stur. Unversehens greift sich Andrea die Mütze eines der Männer und setzt sie sich auf den Kopf.
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