Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Oder interessiert er uns nicht genug?
Einstweilen taste ich mich auf Sichtweite vor, zäh und ausdauernd, aber auf Sichtweite.
Flechten
Drei Tage sind im Nu verflogen. Ich merke, dass meine Wahrnehmung von Andreas Verschiedenheit differenzierter geworden ist, seit wir ununterbrochen so eng zusammenleben und jede Regung miteinander teilen. Bei dem Versuch, Andrea in meine Welt hereinzuholen, ist es mir vielleicht gelungen, einen kleinen Schritt in seine zu tun: Ein bisschen autistischer bin ich, glaube ich, geworden.
Gestern habe ich mich mit den Freunden lange unterhalten. Sie sind fest überzeugt, dass mein Bedürfnis nach Freiheit der Hauptgrund für diese Reise war.
»Hast du in den Wochen oder Monaten vor der Abreise nicht manchmal einen verführerischen Duft wahrgenommen? Ein Ziehen gewissermaßen, weißt du, im Bauch.«
»Ja, doch, ich glaube, ich habe so was gespürt.«
»Siehst du«, ruft Lorenzo, »das ist das Bedürfnis nach Freiheit.«
»Meinst du, es war allein mein Bedürfnis, hierherzukommen?«
»Eure Bedürfnisse, Andreas und deine, kann man sowieso nicht trennen. Gib’s zu, ihr seid wie eine Flechte: eine Grünalge und ein Pilz, die aneinander kleben…«
Andrea ist sicher die Alge.
»Aber gemeinsam seid ihr stark«, fügt Lorenzo hinzu.
Dann wechselt er übergangslos das Thema und ergeht sich in einem Loblied auf Costa Rica und Panama. Urwälder, Parks, Bäume, die wertvolles Holz liefern, Schiffskarawanen. Das sollte man nicht versäumen.
Nun, das werden wir auch nicht.
Lorenzos Frau hakt sich bei Andrea ein, bevor wir uns verabschieden. Er legt ihr die Hände auf den Bauch.
»Gefällt dir mein Bauch?«
»Ja.«
»Hör zu, du musst gut auf Papa aufpassen.«
»Aufpassen…«
»Bitte, vergiss es nicht. Wirst du ihn beschützen?«
»Ja, Papa schön.«
Sie küssen sich.
Und weiter geht’s: Nach Umarmungen, Abschiedsworten und dem Versprechen, wiederzukommen, fährt uns ein Freund von Lorenzo zum Flughafen von Cancún.
Um ein Haar hätten wir den Flug verpasst, das angeschriebene Gate stimmt nicht, sie rufen uns über Lautsprecher aus. Im Flugzeug studieren wir die neuen Landkarten, die wir mit Lorenzo besorgt haben.
Andrea sitzt hinter mir, ich winke ihm, er winkt zurück, und ich nicke ein. Ich fühle, dass etwas auf meinen Bauch drückt, öffne die Augen und sehe Andrea, der mich anschaut.
In Kürze werden wir landen und müssen ein Leihauto und ein Hotel finden und die Route nach Panama festlegen: für erfahrene Reisende wie uns ein Kinderspiel, so einfach wie ein Glas Wasser trinken.
Aber trotz aller Erfahrung schaffen wir es nicht, in San José ein passendes Auto aufzutreiben. Das heißt, ein Auto bekommt man, aber man darf damit nicht bis nach Panama fahren. In den Staaten Mittelamerikas ist es verboten, mit Leihwagen von einem Land ins andere zu fahren. Man muss sie an der Grenze stehenlassen. Wir lösen das Problem, indem wir uns einer Firma anvertrauen, die eine Tochtergesellschaft in Panama hat: An der Grenze von Costa Rica werden wir das Auto abgeben und in ein anderes umsteigen, mit dem wir in die Hauptstadt weiterfahren können. Die äußerst liebenswürdige Angestellte, die uns den Vertrag ausstellt, hat Andreas Zustand erfasst und flüstert mir beim Hinausgehen zu, er sei mein Engel. Ich müsse mich glücklich schätzen, so einen Sohn zu haben, denn er sei ein Geschenk des Himmels.
Viele Leute loben uns dafür, wie wir mit den unterschiedlichen Situationen umgehen. Sie sind überzeugt, dass Andrea ein glücklicher Mensch ist, der in zwei Dimensionen leben kann, der irdischen und einer anderen, die ich noch immer nicht ganz sehe.
Wer weiß, vielleicht bin ich tatsächlich vom Glück begünstigt. Doch was Andrea betrifft, wäre ich mir da nicht so sicher. Ich tauche jeden Tag in sein Leben ein, und nicht nur für zehn Minuten wie die anderen. Ich glaube, dass er leidet, und wirklich glücklich wäre ich erst, wenn es mir gelänge, ihn aus diesem Gefängnis zu befreien. Die Engel zu bemühen reicht leider nicht!
Costa Rica
Der Vormittag in San José vergeht rasch. Mit dem Auto erkunden wir die Umgebung, gelangen auf Nebenstraßen, großenteils ungepflasterte, schmale Wege: Der Himmel verbirgt sich hinter dichtem Laub, und es ist, als würde man in dunkles Gedärm vordringen. Andrea betrachtet durchs Autofenster die wuchernden Bäume, er spürt die Lebenskraft des Urwalds, wir sind fasziniert und orientierungslos zugleich. Seltsam, denke ich, Pflanzen
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