Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Würfelzucker in vier oder fünf Farben. Lorenzo legt den Finger auf den Mund und deutet auf die Stühle, wir setzen uns wortlos, Andrea zögert, doch sobald er ein paar Stück dunklen Kuchen entdeckt, greift er zu, es könnte ja super Schokolade sein.
Alltag: eine Tasse nehmen, einen anständigen Espresso schlürfen, nachdem wir uns im eigenen Badezimmer vor dem Spiegel die Zähne geputzt und genug Zeit gehabt haben, um ein paar Grimassen und ein Lächeln zu proben. Andrea wirkt sehr angetan: Er trinkt mit großen Schlucken, beißt in den Kuchen, sät Krümel, steht auf und schließt ein Schränkchen, steht noch einmal auf und öffnet es wieder, kramt darin, verschiebt etwas, setzt sich wieder hin. Lorenzos Frau zuckt nicht mit der Wimper, er auch nicht: Gastfreundschaft.
Das Mittagessen ist noch prächtiger. Lorenzo deckt sorgfältig den Tisch, wählt die Gläser aus, zeigt nur flüchtig die Weinflaschen, denn eigentlich möchte er mich überraschen. Er riecht an einem Korken und verdreht die Augen in gespielter alkoholischer Verzückung.
Andrea ist ganz außer sich vor Freude: Mit großen Sprüngen hopst er durchs Zimmer und wirft strahlende Blicke auf Teller, Besteck, Gläser und perfekt aufgereihte Stühle. Und all die Aufmerksamkeiten der Hausfrau, möchtest du dieses oder jenes, hier eine Serviette zum Zusammenfalten, da die Kleinigkeiten, die noch fehlen, damit der Tisch vollkommen ist: Salzstreuer, Ölfläschchen, Brotscheiben, die genau aufeinandergeschichtet werden müssen, Messer, die alle in eine Richtung schauen. Und der Kühlschrank, der sich mit weichem Geräusch öffnet und schließt. Ein Paradies der Gewissheiten. Vielleicht hätte Andrea einen Klappstuhl am Meeresufer vorgezogen, immer am gleichen Ort, immer die gleiche Welle, in die man unendlich oft eintauchen kann. Repetitive Bewegungen als Abwehrstrategien gegen die Schwingungen der Welt? Oder sind es Botschaften? Oder Possen?
Nachmittags am Meer lege ich mich in die Sonne, tiefe Gelassenheit überkommt mich, trotz leichter Magenkrämpfe. Selbstverständlich fällt nicht einfach jede Spannung spurlos von mir ab. Im Gegenteil, gerade wenn die Situation mal etwas weniger angespannt ist und das Adrenalin ausbleibt, fordert der Körper einen gewissen Tribut.
Der Abend im Restaurant wird unerwartet zum Albtraum. Mit einer einfachen Eistüte in der Hand verwandelt Andrea sich und die Sachen rundherum in abstrakte Gemälde. Schokoladeneis natürlich. Er schafft es nicht, sich einzukriegen. Eine Riesenaufregung, die Ruhe ist dahin. Ein bisschen macht es mich wütend.
Nachdem wir ganze Packungen von Servietten verbraucht und eine Art klebrigen Waffenstillstand geschlossen haben, versuchen Lorenzo und seine Frau, mich zu trösten, sie möchten verstehen und mehr über Andrea wissen. Wie das überhaupt gekommen sei, fragen sie, und wie sehr es uns verändert habe. Ich schwöre, dass ich ihnen gern alles haarklein erklären würde, was genau mit Andrea passiert ist und was heute in seinem Kopf vorgeht. Doch ich betrachte meine Hände, suche nach Wörtern, ich habe keine sichere Antwort, nur Vermutungen.
Für Eltern ist es schon schwierig zu begreifen, dass das Hirn ihres Kindes anders funktioniert, doch wenn sie mit den »Geheimnissen des autistischen Verstands« konfrontiert sind, übersteigt das ihren Horizont. Wie sollte man da dahinterkommen?
Seit Jahrtausenden entwickeln wir komplizierte Filtersysteme, um uns vor dem Fluss der Ereignisse zu schützen. Kalender, Uhren, religiöse Überzeugungen, Antifaltencremes, Hörschutzgeräte gegen den Schmerz der anderen, Regelwerke, die den Weg ins Paradies und ins Fegefeuer weisen. Maßvolle Veränderungen akzeptieren wir, aber wirklich einschneidende Ereignisse sollen am besten nur ein- bis zweimal im Jahrhundert geschehen. Und nicht bei uns zu Hause. Jeder von uns hat mehr als ein paar Tropfen Autismus in sich.
Über Autismus weiß man sehr viel, und gleichzeitig weiß man nichts. Ein Teil der autistischen Menschen besitzt besondere Begabungen, und wir wissen nicht, warum. Es ist nicht klar, warum die Ausmaße der Gehirnbereiche anomal sind. Ebenso wenig ist klar, warum Autisten pedantischer sind als die normalen Pedanten und Veränderungen vielleicht noch heftiger ablehnen als eine Diva, die nicht altern will. Wir wissen mehr über ferne Galaxien, Schwarze Löcher und die verborgenste Struktur der Materie.
Ist Autismus etwa ein Problem mit zu vielen Variablen? Eine zu schwierige Herausforderung?
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