Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
weitergeht, werden Menschen wie Ihr Sohn bald die einzigen Inseln der Andersartigkeit sein.«
»Das soll wohl ein Kompliment sein«, erwidere ich.
»Ich wollte sagen, dass eine große Symphonie viele Zwischentöne beinhaltet.« Die Amerikanerinnen fragen, ob sie die Fotos anschauen dürfen, die wir unterwegs gemacht haben, und kommentieren belustigt die Schnappschüsse aus den USA . Vor allem New Orleans. Sie lachen über unsere Kurzfilmchen. Draußen geht ein böses Unwetter nieder, und doch entwickelt sich unser Abend überaus heiter. Die drei Amerikanerinnen outen sich als Musikerinnen, und am Ende des Essens holen sie in einer Ecke des Restaurants zwei Geigen und ein Violoncello aus den Instrumentenkästen heraus. Drei exzentrische Frauen, die musizierend durch Lateinamerika ziehen. Es regnet, und uns umschmeicheln Geigenklänge. Hinreißend. Andrea und ich finden, dass die Damen eine Huldigung verdient haben. Aus dem Bukett auf unserem Tisch wähle ich drei Blumen aus und erkläre Andrea, wie er jeder der drei eine davon überreichen soll. Er macht es perfekt und fügt auf eigene Faust noch ein paar Küsse hinzu. »Romantische Italiener«, sagt die eine Geigerin. Ich danke Andrea, dass er es so formvollendet hingekriegt hat: »Besser als jeder Gentleman!«
Andrea ist die Ruhe selbst. Was für ein Glücksfall, heute Abend. Mag ja sein, dass sich das Leben wie ein Maulwurf seine Tunnel gräbt, aber ab und zu gelangt es auch hinaus ans Licht. Himmel, Andre, solche Ferien habe ich noch nie gehabt: endlos lang, unvorhersehbar. Hab ich dir schon gesagt, dass du der beste Reisegefährte bist, den ich je hatte?
Was für eine schöne Baracke
Flügelschlagen, Tierschreie – der Urwald erwacht sehr früh. Ich schaue auf die Uhr: kurz vor sechs. Andrea ist schon auf und lauscht. Umso besser, wir müssen sowieso bald los, denn bis nach Panama braucht man beinahe fünf Stunden. Gegen Mittag erwarten sie uns an der Grenze für den Wagenwechsel.
Die Fahrt verläuft ruhig, an Schlaglöcher und sonstige kleine Mängel der Straße haben wir uns gewöhnt. Nach ein paar Stunden sehen wir direkt am Straßenrand eine so elende Hütte, dass ich den Gedanken, sie könnte bewohnt sein, weit von mir weise. Vor allem nach unserer Nacht im Hotel Iguana. Die Wände bestehen aus Holzstücken unterschiedlichster Form, das Dach ist ein windschiefes, rostiges Wellblechsammelsurium. Ich entdecke zwei an einen Pfosten gebundene Schweine, und das deutet nicht unbedingt auf einen verlassenen Schuppen hin. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass hier jemand leben sollte. Was für magere, traurige Schweine…
Aus der Baracke tritt ein Typ um die fünfzig. Er ist in Lumpen gekleidet, ziemlich schmutzig und macht mit der Hand die Andeutung einer Geste, ein unaufdringliches Zeichen. Als wollte er sagen: Ich existiere, so gut ich kann. Vor Verwirrung hätte ich beinahe den Rückwärtsgang eingelegt, aus dem Magen steigt ein seltsames Gefühl auf. Ich fahre an der Baracke vorbei, und mir ist, als sähe ich im Rückspiegel noch einmal dieses Winken. Was machen wir? Er will mir etwas mitteilen. Ich blicke Andrea an: Du kennst mich ja! Wir kehren um.
Als das Auto erneut zu hören ist, kommen noch zwei Männer heraus, und alle drei stellen sich in Reih und Glied wie Fußsoldaten zur Parade. Sie grüßen verhalten, ihr Blick ist freundlich. Der Größte stellt vor: Der eine ist sein Bruder und der andere einer, der nicht ganz richtig im Kopf ist und bei ihnen lebt. Er will uns ununterbrochen die Hand schütteln. Es ist unübersehbar, dass sie bettelarm sind, ein paar Hühner, die frei herumlaufen, und die angebundenen Schweine sind gewissermaßen ihr Bankkonto. Hinter der Hütte, dicht und drohend, der Urwald. Ihm ein Stück Land abzuringen und darauf etwas anzubauen ist bestimmt nicht einfach.
Die Hände auf die Brust gelegt, bitten sie uns einzutreten, und der leicht debile Mann packt sogleich meine Hand und lässt sie nicht mehr los.
Schließlich sehen wir ihn. Das heißt, unser Herz macht einen Satz, noch bevor wir die Gestalt richtig wahrnehmen. Auf einer zerschlissenen Matratze – ein Bett kann man es beim besten Willen nicht nennen – liegt ein etwa zwanzigjähriger Junge.
Hastig erklären uns die anderen, dass er invalide ist, und zeigen uns seine steifen Beine. Er kann nicht gehen, und um sich aufzurichten, zieht er sich mit seinen klauenartigen Händen an den Pfosten des Zimmers hoch. Und die ganze Zeit drückt er eine Halbliterflasche
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