Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Arraial wegziehen musste. Wegen eines Gauners, eines gewalttätigen Kerls namens Alvaro Dias Barbosa, der ihr nachstellte. Er kannte auch die Enkelin, Roxana, hatte sie aber schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, allerdings kam er jetzt nur noch ein-, zweimal im Monat geschäftlich nach Arraial.
Und wenn Joana uns an der Nase herumgeführt hätte? Ein wenig verunsichert war ich schon.
Auf dem Weg nach Ilhéus machen wir Rast an einem Strand, gehen ein paar Schritte, und dann, ich weiß wirklich nicht, warum, geraten Andrea und ich uns maßlos in die Haare.
Die Stimmung kippt, die Kilometer machen sich bemerkbar, und ich werde so wütend wie noch nie. Der Streit entzündet sich an Andres Obsession, meine Hände festzuhalten: Er packt sie und drückt sie an mich, dann lässt er sie los. Tausendmal. Egal, was ich gerade vorhabe, er verhindert es.
Ohne es zu wollen, verliere ich die Beherrschung. Es geht nicht immer alles glatt. Man kann nicht jede Schwierigkeit rational bewältigen. Ab und zu explodiert man.
Plötzlich sehe ich schwarz, pechschwarz. Dass Andrea die Sätze ständig wiederholt wie eine gesprungene Schallplatte, dass sich die Selbständigkeit nicht einstellen will, dass das Gespräch so leicht abreißt, dass er gebissen und an den Haaren gezogen werden will und dass er andauernd den Leuten an den Bauch fasst und sie unversehens umarmt: All das scheint mir auf einmal unerträglich zu sein, endlos, es geht über meine Kräfte. Am liebsten würde ich Andrea auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Ich beginne damit, ihn zu fragen, was er tun will, und lasse nicht locker. Als würde ich ihn nicht kennen.
»Was willst du tun, Andre, sag mir, was du tun willst…«
»Hierbleiben.«
»Wozu?«
»Hierbleiben.«
»Ja, aber was machen wir hier?«
»Hierbleiben.«
Sprung in der Platte.
»Hierbleiben.«
»Wenn du hierbleiben willst, ohne was zu tun, gehe ich weg und lasse dich allein.« Ich würde gern neue Wörter von ihm hören, wenigstens eins. Ich entferne mich und sage: »Dann bleibst du jetzt alleine hier!«
Andrea reagiert nicht.
Hundert Meter weiter setze ich mich unter ein gut hinter Palmen verstecktes Dach und beobachte ihn. Reglos steht er an genau der Stelle, wo ich ihn stehengelassen habe, den Blick starr auf den Ozean gerichtet, eine Stunde, die länger dauert als die ganze Reise. Die Gedanken überschlagen sich. Sei doch ehrlich, sage ich mir: Du hattest bestimmte Erwartungen, und jetzt kommt es dir so vor, als sei alles umsonst gewesen. Ich quäle mich mit der Frage, was besser ist: unendliche Geduld oder herbe Vorwürfe. Niemand kann mir sagen, welche Methoden bei Andrea am ehesten wirken. Ich glaube, ich tue mein Bestes, und dann rege ich mich auf, wenn er sich danebenbenimmt.
Ich betrachte ihn, wie er unter der gnadenlosen Sonne wie angewurzelt an dem menschenleeren Strand steht, vor den Wellen, die auf einmal feindselig geworden sind.
Nein, denke ich, bei ihm kann man nicht den gewohnten Maßstab anlegen, die exakte Wissenschaft taugt hier nicht. Man bräuchte eher eine Fehlertheorie. Wie man mit vielen Fehlern umgeht, wie man sie wirklich annehmen kann.
Sosehr ich auch fluche, ich liebe ihn. Ich weiß nicht, woraus diese Liebe besteht. Ich glaube, dass es Eltern nie leichtfällt, diese Frage zu beantworten. Manchmal ist die Liebe wie verschüttet. Manchmal ist sie einfach da. Manchmal ist sie nichts anderes als Eigenliebe. Manchmal ist sie das Gefühl, dass das Leben durch dich hindurchgeht: Es kommt zu dir, du nimmst es in Empfang und gibst es an jemanden weiter.
Ich stehe auf und winke ihm. Andrea saust los, schnell wie der Blitz. Er hat diese Augen, die man nicht deuten kann, nie wird man wissen, aus welcher Höhe oder Distanz er einen seiner raschen Blicke wirft. Ich sprinte los, fordere ihn zum Wettlauf heraus, laufe, bis mir die Luft ausgeht. Er überholt mich und könnte wohl ewig weiterrennen.
Wie gewöhnlich schließen wir Frieden.
Fünfzehn Jahre lang schwierige Momente. Auch jetzt bleibt mir ein bitterer Nachgeschmack. Es ist nicht leicht, wirklich nicht.
Als wir vom Strand zurückgehen und unser Auto suchen, sehe ich ein Mädchen mit einem T-Shirt, auf dem steht: »Gib nie auf, eine Hoffnung gibt es immer.« Das Wort »immer« in Großbuchstaben. Seltsames Wort, so einfach, tröstlich oder schrecklich. Es klingt wie ein Märchen. Ein mächtiges Märchen. Und doch habe ich noch Hoffnung – die Zuversicht, dass die Zukunft in unseren Händen liegt. Dass wir
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