Wenn nicht jetzt, wann dann?
Während der Pubertät begann eine Freundin nach der anderen, über ihre Mutter zu schimpfen. All die netten Mütter, die sie doch von ganz anderer, freundlicher Seite kannte, schienen sich in diesen Jahren eine nach der anderen in strenge, ordnungsbesessene Furien zu verwandeln, denen es nur darum ging, ihren Töchtern das Leben zu vergällen. Sie bedauerte es zutiefst, dass die einzige Mutter, die noch immer nett, verständnisvoll und lustig geblieben wäre, nämlich ihre, nicht mehr lebte. Aber diese Gedanken würde sie ihrem Vater niemals verraten. Denn ihren Vater umflorte schon immer eine Traurigkeit, ohne die sie ihn sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Und es machte sie glücklich, wenn es ihr gelang, ihn zum Lachen zu bringen. Wenn sie ihm gesagt hätte, dass sie gerne eine Mutter gehabt hätte, hätte dies all ihre vorherigen Anstrengungen auf einen Schlag zunichtegemacht. Und Nina hatte einige Anstrengungen auf sich genommen, um ihren Vater glücklich zu machen und sich selbst als heiteres und kompetentes Mädchen darzustellen, dem nichts, aber auch gar nichts fehlte. Diese Rolle hatte sie so gut einstudiert und jahrelang so überzeugend praktiziert, dass sie mittlerweile selbst daran glaubte. Wenn die traurigen Erinnerungen ihren Vater überfielen, dann wusste sie genau, wie sie ihn und damit auch sich selbst aufheitern konnte.
»Ich würde am liebsten im Mai heiraten.« Nina versuchte jetzt, das Thema zu wechseln. »Nicht sehr originell, ich weiß, aber der Mai ist doch tatsächlich schön für Hochzeiten!«
»Das wird zu knapp werden, schätze ich.« Claus Winter ging gerne auf das Ablenkungsmanöver seiner Tochter ein. Er wollte ihr mit seinen trübseligen Erinnerungen nicht die Laune verderben. Schließlich ging es um ihre Hochzeit. Um ihr Leben. Nicht um seins.
»Aber das wird uns deine Frau Baumgarten bestimmt verraten. Es soll ja auch nicht überstürzt wirken, oder ist mir da womöglich etwas entgangen?«
Er sah sie fragend an.
»Nein, nein«, lachte Nina. »Keine Angst. Sonst nehmen wir eben den Mai nächstes Jahr!«
»So lange kannst du doch gar nicht warten, wenn du dir erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hast.« Ihr Vater sah sie neckend an.
»Scherz!«, erwiderte Nina. »Hauptsache, es ist Sommer. Meinetwegen mitten im Sommer. Nur nicht zu spät. Keine Spätsommerhochzeit.«
Ihr Vater stimmte ihr zu. Der Spätsommer war keine gute Zeit für Hochzeiten. Niemand sollte heiraten, wenn schon die ersten Blätter fielen. Vielleicht war es auch eine Typsache. Es gab tatsächlich Menschen, die den Herbst mochten. Nina und ihr Vater gehörten nicht dazu. Für sie war der Oktober schon immer der traurigste Monat gewesen, weil Ninas Mutter im Herbst verunglückt war.
»Was sagt denn mein zukünftiger Schwiegersohn zu diesem Thema?«, fragte Claus Winter.
»Fabian ist es egal, wann wir heiraten. Auch das Ziel der Hochzeitsreise darf ich alleine aussuchen.« Nina zog eine Grimasse. »Schon toll, was Frauen erreicht haben. Vor 100 Jahren hätte ich weder bei der Wahl meines Ehemannes noch beim Ziel meiner Hochzeitsreise ein Wörtchen mitreden dürfen. Na ja, ein Wörtchen vielleicht, aber ob man darauf gehört hätte?«
»Und stell dir vor, er hätte dich mit einer Schiffsreise überrascht!«
Ihr Vater erinnerte sie lachend an die zwei Überfahrten, die sie gemeinsam einmal nach Schweden und einmal nach Schottland gemacht hatten. Niemand auf dem Schiff war so seekrank geworden wie Nina, die schon bei kleinen Ruderbootfahrten auf Ausflugsseen grün um die Nase wurde.
Claus Winter war froh, dass Nina seine Grübeleien unterbrochen hatte. In seinem Berufsleben hatte er so gut gelernt, sie zu verbergen, dass sie ihn in der geschützten Umgebung seines Zuhauses immer häufiger heimsuchten. Besonders seit Nina ihm verkündet hatte, heiraten zu wollen, einen Entschluss, den er mehr als begrüßte, schweiften seine Gedanken öfter zurück in die Vergangenheit. Vor allem in die Zeit, in der er selbst gerade geheiratet hatte. Damals hatten sie so etwas wie eine Hochzeitsplanerin nicht gebraucht. Es hätte sowieso keine gegeben. Das hatten die Mütter und die Schwiegermütter übernommen, und wenn man Glück hatte, verstanden sie sich einigermaßen, und alles ging glimpflich vonstatten. Am Verlauf der Hochzeitsplanungen hatte sich stets schon sehr früh und sehr deutlich offenbart, ob die zwei Schwiegerfamilien in Zukunft harmonieren oder streiten würden und wie vielfältig die Möglichkeiten
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