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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Ruppert
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Eine gute Tochter würde ihren Vater jedenfalls nicht in einem Haus zurücklassen, das viel zu groß für ihn war und die Abwesenheit einer Frau in seinem Leben noch sehr viel spürbarer machen würde als bisher. Eine gute Tochter würde bleiben. Nina war bisher immer eine gute Tochter gewesen. Mehr als das. Sie hatte sich stets bemüht, eine perfekte Tochter zu sein. Keine Schulprobleme, ein Spitzenabitur. Keine wilden Partys, keine Drogen, nur die richtigen Jungs in Ralph-Lauren-Hemden. Ein Bachelorabschluss in BWL , exzellent und zielstrebig abgeschlossen, die richtigen internationalen Praktika in den richtigen Betrieben, darunter auch Cartier und Tiffany. Drei Fremdsprachen, fließend. Und nun würde sie den richtigen Mann heiraten, auf den auch ihr Vater große Stücke hielt. Sie war die perfekte Tochter, und genau deshalb würden sie in der Villa bleiben.
    Und doch. Und doch war der Gedanke auszuziehen irgendwie auch verlockend. Aber das würden sie irgendwann ja immer noch tun können. Nina war dreiundzwanzig und hatte bereits mehr von dem verwirklicht, was ihr wichtig war, als andere in ihrem Alter. Und wenn das mit dem Nachwuchs schnell klappte, dann wäre sie mit Mitte vierzig schon wieder frei. Für Reisen, für Filialengründungen in aller Welt, für was auch immer sie wollte.
    Nina suchte ihren Vater zunächst in der Bibliothek, doch er saß an seinem Tisch im Arbeitszimmer und sah nicht in die Papiere, die vor ihm lagen, sondern aus dem Fenster. Er war so in Gedanken versunken, dass er sie gar nicht eintreten hörte und überrascht aufschaute, als sie plötzlich vor ihm stand.
    »Hallo, Papa«, begrüßte Nina ihn lächelnd. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Ganz weit weg?«
    »Ziemlich«, lächelte Claus Winter wehmütig. »Ich musste plötzlich an meine eigene Hochzeit denken.«
    »Ach Papa.« Nina seufzte verständnisvoll. »Nicht traurig werden jetzt. Wenn du traurig wirst, heirate ich nämlich lieber gar nicht. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir mit einem oder zwei Autos zu Frau Baumgarten fahren? Wenn du danach direkt zum Laden musst, kann ich mit dir kommen. Wenn du woanders hinmusst, fahre ich selbst.«
    »Deine Mutter war eine wundervolle Braut«, sagte Claus Winter träumerisch, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ich frage mich, wo das Kleid geblieben ist. Ich habe es nie mehr gesehen. Was machen Frauen eigentlich nach der Hochzeit mit ihren Brautkleidern?«
    »Sie schlagen sie in Mottenpapier ein und hängen sie ganz hinten in den Schrank. Oder sie geben sie weg. Keine Ahnung.« Nina zuckte die Achseln. »Manche lassen es auch umarbeiten. Aber zu denen hat Mutter bestimmt nicht gehört. Dazu gehören eher diejenigen, die sich kein Cocktailkleid leisten können.«
    »Ich glaube nicht, dass sie es weggegeben hätte. Aber es war nicht mehr in ihrem Schrank.«
    »Papa …« Nina versuchte ihn abzulenken, doch er ging nicht darauf ein.
    »Sie hat damals alles selbst geplant. Mit der Hilfe ihrer Mutter natürlich. Es war toll. Das könntest du auch. Du hast das von ihr geerbt, das Organisationstalent, das Durchsetzungsvermögen. Wenn irgendetwas nicht so lief, wie sie es wollte, dann hat sie die Leute so lange beschwatzt, bis es doch ging. Wenn sie noch hier wäre, hättet ihr die Hochzeit gemeinsam planen können. Es wäre bestimmt schön geworden.«
    »Es wird so auch schön werden«, erwiderte Nina. »Wer weiß, vielleicht hätten wir uns sogar in die Haare gekriegt, vielleicht hätte sie alles anders gewollt, als ich es mir vorstelle, und wir hätten einen Riesenkrach bekommen.«
    Mit Sätzen wie diesen hatte sie fast ihr ganzes dreiundzwanzigjähriges Leben lang immer wieder versucht, ihren Vater zu trösten und ihm zu vergewissern, dass er ein so toller Vater war, dass sie die fehlende Mutter kaum vermisste. Manchmal brauchte sie diese Sätze auch, um sich selbst zu trösten. Denn natürlich hatte es nur sehr wenige Momente in ihrem Leben gegeben, in denen ihr nicht bewusst gewesen war, dass ihr eine Mutter fehlte. Wenn sie bei Freundinnen war, deren Mütter ihnen Anekdoten erzählten, was diese als Baby gemacht hatten. Wenn bei den Kindergeburtstagen, auf denen sie eingeladen war, der von der Mutter selbstgebackene Lieblingskuchen des Geburtstagskindes auf dem Tisch stand. Sie stellte sich vor, dass ihre Mutter sie immer verstanden hätte, ohne dass sie irgendetwas zu sagen brauchte. In ihrer Vorstellung war ihre Mutter der perfekte Mensch, voller Wärme, Verständnis und Humor.

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