Wenn nicht jetzt, wann dann?
zuverlässig und begabt. Er war, wenn er ehrlich war, heilfroh, dass er einen kleinen Teil seiner väterlichen Verantwortung für Nina abgeben konnte und dass er ebenso einen Teil seiner Verantwortung für das Geschäft an seinen zukünftigen Schwiegersohn mit abgeben konnte. Die beiden würden zusammen ein gutes Team bilden. Er spürte die Erleichterung förmlich in den Knochen. So wie man sich bei einer langen Wanderung, die sich dem Ende zuneigt, auf den Moment freut, an dem man den Rucksack ablegt und die Schuhe abstreifen kann. Eigentlich merkte er erst durch diese sich ankündigende Erleichterung, wie sehr es ihn belastet haben musste, Nina gleichzeitig Vater und Mutter zu sein, sich mit niemandem vernünftig beraten zu können und trotzdem immer alles richtig machen zu wollen für dieses blonde kleine Geschöpf.
»Und wie fahren wir nun?«
Nina sah ihren Vater fragend an.
»Wir nehmen mein Auto, und danach fahren wir zusammen ins Geschäft. Dann können wir auf der Fahrt unsere Eindrücke austauschen.«
Nina nickte.
»So habe ich mir das auch vorgestellt! Wollen wir dann aufbrechen? In der Gegend gibt es so gut wie keine Parkplätze.«
»Spricht schon einmal gegen diese Frau Baumgarten«, bemerkte Claus Winter.
»Solange es bei der Hochzeit genug Parkplätze gibt!«
Nina drehte sich in der Tür noch einmal zu ihm um.
»Ich hole eben meine Sachen. Bin in fünf Minuten unten, okay?«
Annemie hatte sich den Regalen, die voller Bücher und Ordner und Kästen standen, zugewandt und begonnen, in einen nach dem anderen hineinzuschauen. Begeistert blätterte sie alles durch und vergaß schnell, dass sie sich eigentlich nur hatte ablenken wollen.
In einem der Ordner waren Brautsträuße fotografiert, einer schöner als der andere. Solch hübsche Brautsträuße hatte Annemie noch nie gesehen. Rosen in kräftigem Pink kuschelten sich an leuchtend rote Nelken, und alles wurde von hellgrünem Frauenmantel umkränzt. Oder blassrosa Rosen, die von dunkelroten Schokoladenblumen gerahmt waren. Wie ungewöhnlich. Und dann diese kleinen Träume in Weiß! Weiße Pfingstrosen, die neben weißem Flieder, durchsetzt von weißen zarten Wickenblüten, dufteten. Ranunkeln zwischen Zwergmargeriten, elegante cremefarbene Mini-Callablüten, deren Stiele mit einer großen Schleife aus breitem Seidenband zusammengehalten wurden. Maiglöckchen! Kleinblütige Röschen zwischen Vergissmeinnicht und Traubenhyazinthen. Sie hätte gar nicht gedacht, dass blaue Blüten in einem Brautstrauß so hübsch und frisch aussehen. Sie hatte damals für ihren eigenen Strauß Nelken in Rosa und Rotweiß gestreift selbst mit weißem Geschenkband eng zusammengebunden und ein wenig Grün außen herum gesteckt. Das Band war am Abend ganz grau und schmutzig gewesen. Aber in der Vase, in welcher der Strauß noch fast zwei Wochen lang auf ihrem neuen Wohnzimmertisch stand, hatte man es ja nicht gesehen.
Das Klingeln eines Telefons schreckte Annemie auf. Wo kam dieses Klingeln nur her? Nach einer kurzen panischen Suche fand sie das Telefon zwar, doch was jetzt? Sie kannte sich nicht aus mit diesen Dingern. Zu Hause hatte sie noch ein normales Telefon, dessen Hörer durch eine Schnur mit dem Gerät verbunden war. Man nahm den Hörer ab, und man legte ihn wieder auf. Diese Knopfdruckhörer waren ihr überhaupt nicht vertraut, auf welchen Knopf musste sie jetzt bloß drücken?
Sie drückte beherzt auf eine Taste und das Klingeln verstummte, doch als sie vorsichtig »Hallo, Hochzeitsfieber!« in den Hörer sagte, hörte sie: nichts. Sie musste etwas falsch gemacht haben. Aber was nur? Sie drückte alle Knöpfe nacheinander, die sich auf der oberen Hälfte des Hörers befanden und mit keiner Zahl bedruckt waren, in der Hoffnung, noch den richtigen zu finden, um den Anrufer zu sprechen. Doch sie hatte kein Glück. Plötzlich traf sie eine Taste, die das langgezogene Leerzeichen erklingen ließ. Die musste es sein. Sie drückte sie, der Ton erklang, sie drückte sie nochmals, und der Ton erstarb. Das war sie also. Das hätte sie sich eigentlich denken können, denn es war die Taste, deren Zeichen schon so abgenutzt war, dass man es nicht mehr richtig erkennen konnte. Das Telefon klingelte, während sie noch auf die Taste starrte, und sie drückte schneller darauf, als sie zu sprechen bereit war, verhaspelte sich fürchterlich und legte panisch wieder auf. Sie spürte, wie ihre Hände vor Anspannung ganz feucht wurden.
Was, wenn gerade Herr Winter angerufen
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