Wenn nicht jetzt, wann dann?
Dienstbesprechung zurückzurufen, und versenkte das klingelnde Telefon in seiner Kitteltasche.
»Na, wollen Sie nicht drangehen?« Eine der jungen Schwestern, die ihn gerne provokativ anflirtete, kam ihm entgegen. »Wird da wieder eine hoffnungsvolle Verehrerin abgewimmelt? Tstststs …«
Er schüttelte den Kopf, es war immer das Gleiche. Man dichtete ihm haufenweise Verehrerinnen und zurückgelassene gebrochene Herzen an. Fast niemand wusste, dass er seit seiner Scheidung eigentlich selbst ein gebrochenes Herz hatte. Vielleicht war es nicht komplett entzweigebrochen, aber schwer lädiert auf jeden Fall. Und als Orthopäde wusste er, dass Knochen, die einen Knacks hatten, manchmal schwerer und langwieriger heilten als glatte Brüche. Er wäre gerne in ein Mauseloch gekrochen oder ein Fließbandarbeiter gewesen, der nur vom Schichtführer gegrüßt wurde und von den zwei Arbeitern, die links und rechts von ihm standen. In unvorteilhafter Arbeitskleidung und mit Mundschutz. Seit der Trennung fühlte er sich seinem Äußeren nicht mehr gewachsen. Er wusste, dass er gut aussah, und der Arztkittel tat sein Übriges. Schwestern, Patientinnen, Besucherinnen, Kolleginnen – alle hielten ihn ausnahmslos für einen Herzensbrecher und flirteten mit ihm, neckten ihn, beobachteten ihn genau. In ihren Vorstellungen führte er Scharen von attraktiven Damen in französische Restaurants aus, schenkte Champagner ein und war witzig. Gut, witzig konnte er sein, aber wenn die Damenwelt um ihn herum ihm nur glauben würde, wenn er sagte, dass er mit einer Oliven-Sardellen-Pizza, einem kühlen Bier und der Champions League im Fernsehen schon selig war, vor allem, wenn er Leonie dabei noch das Abseits erklären konnte, dann hätte er es leichter. Es war ein sonderbarer Wunsch, lieber nicht so gut auszusehen, lieber nicht so viel Erfolg beim weiblichen Geschlecht zu haben und wegen einer traurigen Scheidung nicht noch interessanter zu wirken. Er wusste, dass er es eigentlich gut hatte, aber er wäre gerne einmal übersehen worden. Es würde dauern, bis sein Herz sich wieder erwärmte.
Auf dem Weg zur Dienstbesprechung wollte er noch einmal bei seiner neuen Unfallpatientin vorbeischauen. Eine richtige Kratzbürste und eine willkommene Ausnahme. Es war geradezu erfrischend, von ihr angeranzt zu werden, nur weil er ein Mann war und gut aussah. Er musste grinsen. Aber er hatte bei seiner Erstuntersuchung am Morgen gespürt, dass sie Angst hatte vor der OP , und er wollte ihr noch einmal erklären, was an ihrem Bein genau gerichtet werden musste.
In einem Krankenhaus war es wesentlich einfacher, Arzt zu sein als Patient. Für einen Arzt war es Arbeitsalltag, für einen Patienten der absolute Ausnahmezustand. Man machte sich das nur viel zu selten bewusst. Meistens war auch überhaupt keine Zeit, sich irgendetwas bewusst zu machen, denn in der Regel hetzte er von OP zu OP, von Patient zu Patient. Gedanken über seine Arbeit und die Menschen, denen er dort begegnete, machte er sich in den Minuten des Leerlaufs, sobald er alleine in der Umkleide war, im Auto auf dem Weg nach Hause saß oder unter der Dusche stand. Und wenn er gerade nicht an Leonie oder Sandra dachte.
Im Flur vor dem Zimmer seiner Patientin saß eine ältere Dame, die sehr blass wirkte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er im Vorübergehen.
»Danke, ja.« Sie lächelte schwach. »Der Kreislauf. Die nette Schwester kümmert sich schon um mich.«
Seine Patientin Liz Baumgarten saß im Bett und schaute in eine Dose voller bunter kleiner Kuchenwürfel.
»Immer wenn ich Sie sehe, sind Sie mit Essen beschäftigt! Und dann auch noch etwas Süßes.«
Sie blickte auf und grinste ihn an.
»Ich brauche das. Zucker macht glücklich, wissen Sie. Und darauf ist wenigstens Verlass. Ich öffne die Dose, ich weiß, was drin ist, und ich ahne, wie gut es schmecken wird. Und hinterher geht es mir gut, weil es genau so war, wie ich es mir vorgestellt habe. Wollen Sie auch mal?«
Sie hielt ihm die Dose hin, und er wollte schon abwinken.
»Mit Süßem können Sie mich nicht so locken. Ich bin eher für Oliven und Sardellen. Aber na gut. Eins probiere ich mal.«
Er wusste nicht genau, warum er zugriff. Er fand es selbst ganz bemerkenswert, denn normalerweise hätte man ihn mit buntem Zuckerguss jagen können. Irgendetwas in ihrem Blick hatte ihn dazu gebracht, in die Dose zu greifen. Vielleicht brauchte sie das Gefühl, dass er etwas von ihr annahm, bevor sie ihm morgen ihr Bein überlassen
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