Wenn nicht jetzt, wann dann?
hörte, wenn ihre Tochter einen schlechten Traum hatte, aus dem sie befreit werden musste. Sie würde alles ganz anders machen.
Sie würde ihre Tochter lieben.
Als Annemie schwanger war, bekam sie einen Riesenschreck und traute sich nicht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch innerlich spürte sie eine unendliche Freude. Ganz egal, wie Rolf reagieren würde, sie würde dieses Kind haben und großziehen und lieben, es machte sie so glücklich, dass sie bald ein Kind haben würde. Sie würde nie mehr allein sein, dachte sie. Egal was nun geschah, das Kind und sie wären auf immer verbunden, und sie würde ihm alles geben, was sie konnte.
Rolf wurde erst rot im Gesicht, dann blass, dann fast grau, dann wieder rosig, und dann stotterte er etwas von Verantwortung und Heiraten und nicht alleine lassen und sich mögen, und als er sie erwartungsvoll ansah, begriff Annemie, dass Rolf-Dieter Hummel ihr soeben einen Heiratsantrag gemacht hatte, und sagte ja.
Ihre Mutter reagierte bissig.
»Da hast du es doch weiter gebracht als ich. Glückwunsch. Dabei war ich zu meiner Zeit viel hübscher als du.«
Annemie schluckte schwer und dachte, wenn ihre Tochter einmal heiratete, dann würde sie alles dafür tun, dass es ein wundervolles Fest sein würde. Während sie sich schon auf die Hochzeit ihrer Tochter freute, für die sie alles ausgeben würde, was sie hatte, ging es jetzt zunächst um ihr Fest. Und da die Familie der Braut die Hochzeit zu bezahlen hatte, fiel das Ganze recht klein aus. Rolfs Eltern und seine Schwester, sein bester Freund, der auch der Trauzeuge war, und Waltraud bildeten schon die ganze Gesellschaft. Man feierte mit Kaffee und Kuchen und späterem Abendessen bei Zabels zu Hause. Der Bäcker hatte seiner liebsten Mitarbeiterin als Hochzeitsgeschenk eine Torte gebacken, und Annemie hatte für den Abend kalte Platten vorbereitet. Spargel lagen in Schinken gerollt zwischen geschnitzten Radieschen und mit Fleischsalat gefüllten Tomaten, russische Eier saßen zwischen Petersiliensträußchen um einen mit Trauben verzierten Käseigel herum, und ihre Mutter hatte dazu einen kalten Braten aufgeschnitten.
Natürlich gab es wenig von dem, was Annemie sich als Mädchen erträumt hatte. Kein langes Brautkleid, keinen Hochzeitswalzer, kein Brautstraußwerfen. Aber es gab das Kuchenanschneiden, und am Abend trug Rolf sie über die Schwelle ihrer neuen, gemeinsamen Wohnung, in der sie noch immer wohnte.
Jetzt hätte das Eheglück beginnen sollen. Das gemeinsame Einrichten eines Zuhauses, das Einrichten des Kinderzimmers, die gemeinsamen Abende, an denen man sich vom Tag erzählte. Wenn Annemie abends aus der Bäckerei nach Hause kam, bereitete sie das Abendbrot und deckte liebevoll den Tisch. Danach setzte sie sich an die Nähmaschine und nähte Gardinen, nähte einen Himmel für die Wiege, die sie bekommen hatten, nähte Bezüge für Kissen, die das noch etwas karge Wohnzimmer zierten, und versuchte so auch ohne viel Geld ein Heim zu schaffen. Schließlich sollte ihre Tochter in ein gemütliches Nest geboren werden. Wenn Rolf abends nach Hause kam, aß er, was Annemie vorbereitet hatte, und setzte sich dann ins Wohnzimmer, um die Zeitung zu lesen. Gesprächsversuche von Annemie wurden mit einem gebrummten »Hm« oder einem unwilligen »Ich lese gerade« abgetan.
Es dauerte nur wenige Wochen, bis Annemie, die alles getan hatte, was sie konnte, um ihrem lieblosen Zuhause zu entfliehen, merkte, dass sie in einem neuen, ebenso lieblosen Zuhause gelandet war. Sie hatte es Rolf nicht ansehen können, dass er aufhören würde, sich mit ihr zu unterhalten, sobald die Brautzeit vorbei war, dass er sich im Bett grunzend wegdrehen würde, dass er mit offenem Mund schlief, in den sie, wenn sie nicht schlafen konnte, manchmal starrte und sich wunderte, dass es ihr einmal Spaß gemacht hatte, ihn zu küssen.
Als Annemie feststellte, dass sie in einer neuen Variante ihres alten Lebens gelandet war, erschütterte sie dies nicht sonderlich. Vielleicht weil sie es so gewohnt war. Vielleicht aber auch, weil sie einen ganz anderen, neuen Trost gefunden hatte. Denn in ihrem Leib wuchs ein Menschlein heran, mit dem alles anders sein würde. Es wäre egal, ob Rolf abends Zeitung las oder nicht, denn sie würde ihre Tochter in den Schlaf singen, sie würde ihr Märchen vorlesen und einen Gutenachtkuss geben.
Aus Annemie, die von der Ehe träumte, wurde Annemie, die von ihrem Kind träumte. Sie spürte die kleinen Bewegungen in ihrem Inneren,
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