Wenn nicht jetzt, wann dann?
so aussah, als sei es oft in Benutzung.
»Hallo?!«
Annemie schaute sich vorsichtig um, bevor sie versuchte, das Tor zu öffnen. Es war nicht verschlossen, ganz im Gegenteil, es hing etwas lose in den Angeln und quietschte beim Öffnen in einem entsetzlich langgezogenen Ton, der einen Toten hätte aufwecken können. Doch nichts passierte. Niemand kam. Annemie rief noch einige Male, dann ging sie beherzt durch das Tor und einen kleinen Weg entlang, der durch hohes, verwunschenes Buschwerk mitten hinein in noch mehr Grün führte, hinter dem auch ein Dornröschen ungestört einen mehrjährigen Schlaf hätte halten können.
Es roch grün und erdig und feucht, es roch nach Wachstum und nach Frühling. Annemie sog den Duft ein, während sie langsam auf dem halbverwilderten Weg weiterging, mit dem unbestimmten Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Zwar sah sie kein Schild, auf dem »Zutritt verboten« gestanden hätte, dennoch hatte sie den Eindruck, hier als Kunde nicht erwünscht zu sein. Als sie nach etlichen Metern durch das hohe Heckengrün wie aus einem Tunnel heraustrat ins Freie, blieb sie überrascht stehen. Das Gelände der Gärtnerei war sehr viel größer, als das quietschende Tor am Eingang sie hatte vermuten lassen.
Der Weg, der über eine weite Wiese zu den Gewächshäusern führte, war sicherlich einst von gepflegten Rabatten gesäumt gewesen, doch nun wuchs dort alles wild durcheinander, was der Frühling an Blumen zu bieten hatte: Tränende Herzen und lila Tulpen, Narzissen und Büschel von Frauenmantel ragten aus einem Teppich von Vergissmeinnicht und Löwenzahn hervor. Die Wiese hatte sich die Rabatte zurückerobert und ganze Distelfamilien, bunter Klee und hohe Gräser hatten sich zwischen den Blumen ausgebreitet, die anscheinend wachsen durften, wie sie wollten. Die Gewächshäuser, auf die Annemie staunend zuging, waren alle unterschiedlich. Es gab runde und rechteckige, antike, hübsch verzierte und sehr zweckmäßige Glasbauten, teilweise umrankt von Efeu, von duftenden Glyzinien und wild wuchernden Kletterrosen. Dazwischen stand ein kleiner Obsthain gerade in voller Blüte. Weißrosa Apfelblüten leuchteten mit einer von Gänseblümchen gesprenkelten Wiese um die Wette, und noch weiter hinten konnte Annemie ein Gartenhäuschen mit Terrasse ausmachen, das aussah, als sei es bewohnt.
Annemie hatte das Gefühl, eine Märchenwelt betreten zu haben, und es hätte sie nicht gewundert, kleine Elfen zwischen den Blumen zu entdecken. Das erste Gewächshaus, in das sie neugierig hineinschaute, war sehr klein und schmal und beherbergte eine ganze Kompanie von Setzlingen. Hunderte kleiner Erdbällchen standen in schmalen Wannen, keck schoben sich aus manchen kleine Blättchen hervor und winzige Halme reckten sich ins Licht, während in anderen Bällchen noch alles in geduldiger Erde zu schlummern schien.
Annemie spürte, wie sich ein Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete. Hier war sie anscheinend in der Kinderstube der Gärtnerei, wo die Pflänzchen geschützt ins Licht der Welt wachsen konnten. Der Kindergarten für die etwas größeren Pflanzen, die in langen, schmalen Hochbeeten wuchsen, war nebenan. Annemie war gerührt, von der Sorgfalt, mit der hier ein Gärtner alles umhegte. Und doch, dachte sie, wusste man nie, wie sich eine Pflanze weiterentwickeln würde. Würde sie meterhoch kräftig wachsen und den ganzen Sommer hindurch üppig blühen? Oder bliebe sie klein, mit dünnen Blättern und gerade mal drei mickrigen Blüten? Die eine Dame im Bus hatte ja gesagt, der Gärtner würde seine Pflanzen nicht verkaufen. Ein bisschen konnte sie das sogar verstehen, wenn sie die behutsam aufgehäufelte Erde sah, die die kleinen Pflanzen umgab. Vielleicht wollte er einfach wissen, was aus ihnen wurde.
Hier war Herr Winter jedenfalls nicht. Als sie aus dem Kindergarten trat, sah sie weiter hinten ein Gewächshaus, das ihr vorher noch nicht aufgefallen war. Es schien in einem unwirklichen Blau zu schimmern. Ob es das Glas war, welches das Tageslicht seltsam reflektierte? Neugierig ging sie darauf zu, und kurz bevor sie eintrat, erkannte sie, was es war. Das ganze Glashaus stand voll blauer Hortensien. Fast ehrfürchtig blieb sie stehen. Diese Hortensien waren so blau. Und es waren so viele, dass ihr der Atem stockte. Es war die größte Ansammlung von blauen Hortensien, die sie je gesehen hatte. Annemie hatte das Gefühl, geradewegs in einen Himmel hineinzuschweben, wie er sich nach besonders klaren Tagen zur
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