Wenn nicht jetzt, wann dann?
blauen Stunde über allem wölbte. Tiefblau, Indigoblau, Lapislazuliblau. Annemie drehte sich langsam im Kreis. Blau, wohin sie auch sah. Abendhimmelblau. Unverdünntes, ergreifendes Abendhimmelblau.
»Die sind nicht verkäuflich. Das hier ist privat.«
Die tiefe Stimme knurrte düster, und Annemie erschrak so sehr, dass sie einen kleinen Satz machte. Entsetzt fuhr sie herum und erblickte einen Mann in der Tür zum Gewächshaus, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem anderen Herrn Winter aufwies. Zumindest wenn sie sich auf sein Gesicht konzentrierte und nicht auf das, was er trug und wie er es trug.
Dieser Herr Winter war ein Draußen-Mensch. Seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt, er hatte schon jetzt im April eine gesunde Bräune im Gesicht, das von tiefen Furchen durchzogen war. Was am Juwelier Winter weich und gepflegt war, war am Gärtner Winter hart und kantig. Das Haar, das grau unter seiner Schirmmütze hervorschaute, trug er recht lang. Die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, so dass sie fast die braunen Augen verdeckte, die bestimmt auch freundlich dreinblicken konnten, nur taten sie dies gerade überhaupt nicht.
In seinen Gummistiefeln steckte eine ausgebeulte Cordhose, die schon bessere Jahre gesehen hatte, darüber trug er eine abgewetzte dicke Wolljacke und darüber einen grünen Kittel, dessen Taschen sich prall gefüllt nach außen beulten.
Er wandte sich zur Tür, warf aber noch einmal einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass Annemie ihm auch folgte.
»Vorne habe ich Hortensien zum Verkauf. Die hier sind privat.«
Als sie an ihm vorbei nach draußen trat, sah er sie an und stutzte kurz. Er hielt den Blick einen Moment länger auf sie gerichtet, als man das normalerweise tat, vor allem, wenn man bedachte, dass er sie eigentlich gerade aus seinem Gewächshaus geworfen hatte. Er sah ihr so tief in die Augen, dass Annemie sich plötzlich durchschaut fühlte. Als ob er gesehen hätte, dass sein Bruder sie geschickt hatte und sie jetzt gleich irgendetwas erfinden müsste, irgendetwas, was ihr natürlich gerade nicht einfiel, so dass sie einfach stumm zurückstarrte, während sie verzweifelt überlegte, was sie bloß sagen könne. Doch bevor sie auch nur einen Ton herausbrachte, murmelte er etwas, das so klang wie »Gutes Blau«. Seine Stimme hörte sich schon wesentlich weicher an als zuvor, wenn es auch nicht ihr zu gelten schien.
»Kommen Sie mal hier ins Licht.«
Annemie gehorchte, obwohl sie sehr verwundert war. Als der Gärtner Annemies Augen im Tageslicht betrachtete, kroch fast so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. Trotzdem klang seine Frage, was sie eigentlich hier wolle, recht ruppig. Auch machte er keinerlei Anstalten, sich für sein seltsames Verhalten zu rechtfertigen, geschweige denn zu entschuldigen.
»Ich wollte Blumen. Für mich. Ich hätte gerne eine Hortensie. Sind die Ihr Spezialgebiet, Herr Winter? Sie sind doch Herr Winter?« Annemie war froh, etwas herausgebracht zu haben.
»Meine Hortensien sind privat. Ich bin Gärtner. Ich habe kein Spezialgebiet.«
Er sah sie an und wurde eine Spur freundlicher.
»Oder nennen Sie es Wachstum. Wenn Sie wollen, dass ich ein Spezialgebiet habe, dann ist es das: Wachstum. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein paar Hortensien.«
Er führte sie in ein anderes Gewächshaus, in dem Hortensien in allen nur möglichen Farben standen, er schaute noch einmal in ihre Augen und ging dann zielstrebig auf einen Pflanztisch zu, von dem er eine blaublühende Hortensie nahm und ihr hinstreckte.
»Nehmen Sie diese. Die passt zu Ihnen. Nicht genau, aber fast.«
»Und wenn ich eine andere möchte?«
»Dann gehen Sie woandershin. Hier bekommen Sie diese.«
»So machen Sie doch bestimmt nicht immer gute Geschäfte, oder?«
»Nein. Aber darum geht es auch nicht.«
»Worum geht es Ihnen denn dann?«
Annemie sah ihn verblüfft an.
Er runzelte die Stirn.
»Sie sahen so aus, als verstünden Sie das. Hab ich mich wohl getäuscht.«
»Ich wollte eigentlich eine rosablühende Hortensie, die passt viel besser zu meiner Wohnung.«
»Aber zu Ihnen passt die blaue. Nehmen Sie die. Die kommt denen aus meiner Sammlung sehr nahe. Nehmen Sie sie.« Er rollte die Pflanze in ein Stück Zeitungspapier und hielt sie ihr hin.
»Und was kostet sie?«, fragte Annemie vorsichtig.
»Nehmen Sie sie einfach. Wiedersehen.«
Er drehte sich um und verließ das Gewächshaus. Annemie ging ihm nach.
»Danke schön!«, rief sie seinem Rücken
Weitere Kostenlose Bücher