Wenn nicht jetzt, wann dann?
mehr wahrgenommen hatte. Hier hatte eine Pflanze einen Rotstich und war viel zu violett geworden, dieses Blau war zu hell und blass – er schleppte die Pflanzen hin und her, gruppierte sie um, bis er mit der neuen Ordnung der Schattierungen zufrieden war. Anschließend ging er zu seinem Regal, in dem er neben dem Dünger, der Hortensien blauer blühen lässt, die verschiedenen Gläser mit den unterschiedlichsten Arten von Eisenspänen, Rost und Mineralien aufbewahrte. Er rührte nun für jede Pflanze einzeln eine neue, besondere Mischung an, die nur auf sie abgestimmt war, und hob diese vorsichtig unter die Erde.
Danach prüfte er den Winkel, in dem das Licht auf die Pflanzen fiel, nahm noch ein paar Veränderungen an der Position mancher Töpfe vor, schloss einige Kippfenster, um andere wiederum zu öffnen, und trat schließlich zurück, um sein Werk zu begutachten.
Nein, heute schwebte er nicht wie in einem Flug durch das unendliche Blau ihrer Augen, wie er es erinnerte, heute versank er im tiefen Blau seiner eigenen Melancholie.
Als er das Hortensienhaus verließ, sah er nach oben. Der Himmel war von einem sehr hellen Blau, das von weißen Kondensstreifen durchzogen war. Ein heiterer Himmel, wesentlich heiterer als er selbst, erstreckte sich über seinem Garten, den er nun auf der Suche nach etwas durchschritt, das ihn ablenken könnte. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Akeleien umzupflanzen. Er ging in eines seiner Gewächshäuser, in denen er aussäte und anzog, um nachzuschauen, wie sie sich entwickelten, und staunte, wie sich die kleinen Blättchen entfaltet hatten, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Die ersten waren schon so weit gediehen, dass sie in größeren Töpfen in das nächste Gewächshaus wandern konnten, wo die Bedingungen für die Pflanzen freilandähnlicher waren als hier in seiner Anzucht. Er hatte nie viel davon gehalten, Pflanzen unter optimalen Bedingungen, die es im normalen Garten nie gab und nie geben würde, möglichst schnell anzuziehen. Die Gartenmärkte, die Hunderte identischer Töpfchen mit hocheffizientem Substrat füllten und computergesteuert beleuchteten und bewässerten, damit große, fette, gesund aussehende Pflanzen zum Kauf lockten, verachtete er zutiefst. Jedes Aussetzen wäre ein Schock für derartige Pflanzen, die weder mit Kälte noch mit Wind, noch mit normalem Boden umgehen konnten und entweder schnell von Schädlingen befallen wurden oder komplett eingingen. Vielleicht war er privilegiert. Durch sein Erbe und seinen bescheidenen Lebensstil musste er nicht arbeiten, er musste keine Pflanze verkaufen, wenn er nicht wollte, er musste keine Schnittblumen anbauen und beeteweise abernten, und er musste keine Aufträge für Hochzeiten annehmen. Er musste es nicht, und er würde es auch nicht. Das würde er der blauäugigen Dame auch ganz klar verdeutlichen. Wenn sie denn wiederkäme.
Während er die stärksten Akeleisetzlinge, die schon mehrere Blätter entfaltet hatten, behutsam in neue Erde bettete, um sie dann in ihr neues Zuhause zu bringen, überlegte er, wer sie wohl war. Sie hatte gesagt, sie wolle einer Freundin helfen. Es war irgendetwas sehr Dringliches an ihrer Bitte gewesen. Hannes fragte sich, warum sie sich gerade seine Gärtnerei ausgesucht hatte und warum ihre Augen so blau waren, dass sie ihn seine innere Ruhe kosteten. Nachdem er aus Versehen zum dritten Mal die zarten Wurzelbällchen von einer Pflanze abgerissen hatte, wurde ihm bewusst, dass er heute nicht die Geduld hatte, sich um das Pikieren der Setzlinge zu kümmern. Dieser Tag verlangte nach größeren Bewegungen. Vielleicht sollte er das Dickicht, das den Weg zu seiner Gärtnerei umwucherte, ein klein wenig zurückschneiden. Es würde ihm guttun, sich anzustrengen. Heute musste er sich todmüde arbeiten, weil ihn sonst die Erinnerung an Blicke, die er aus blauen Augen bekommen hatte, und an Blicke, die er dann plötzlich nie mehr aus blauen Augen bekommen hatte, den Schlaf rauben würde.
Annemie kam mit einer großen Liste voller Fragen zu Liz ins Krankenhaus. Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, saß ein Arzt bei Liz am Bett.
»Oh, Entschuldigung«, murmelte Annemie verlegen. »Ich komme gleich wieder.« Sie dachte, es handele sich um eine Untersuchung, bei der Zuschauer schließlich nichts verloren hatten, doch Liz winkte sie herein.
»Kommen Sie, Frau Hummel, kommen Sie her. Ich stelle Ihnen meinen Knochenflicker vor. Das ist Dr. Friedrich, dem ich gestern ein Petit Fours
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