Wenn nicht jetzt, wann dann?
sammelte all ihren Mut und sah ihr Gegenüber streng an.
»Frau Hartmann«, stieß Annemie hervor. »Sie haben Ihre Tochter ignoriert und nun ignoriert Ihre Tochter Sie.«
»Woher wollen Sie denn wissen, wer hier wen ignoriert hat«, begann sich die empörte Mutter schon wieder aufzuplustern, doch Annemie fiel ihr ins Wort.
»Ich versuche einmal, Ihre Frage zu beantworten.« Annemies Stimme zitterte ein wenig. Doch weil sie davon überzeugt war, das Richtige zu sagen, und weil Frau Hartmann tatsächlich nichts erwiderte, auch wenn sie noch recht schnippisch dreinsah, fuhr sie tapfer fort.
»Ihre Tochter träumt von einer sehr schönen, romantischen und intimen Hochzeit. Wissen Sie das eigentlich? Wovon sie träumt? Was ihr gefällt, oder was ihr überhaupt nicht zusagt? Sie haben ja feststellen müssen, dass Ihre Tochter nicht genau die Wege gegangen ist, die Sie für sie ausgesucht haben. Und das kann ich verstehen, dass man da zuerst auch gekränkt ist. Sie wollen ja schließlich ihr Bestes!«
Annemie bemerkte, dass Frau Hartmann ihre schnippische Maske allmählich verlor und sie nun stirnrunzelnd ansah.
»Aber sagen Sie doch, sind Sie nicht auch schrecklich neugierig geworden? Wollen Sie die Wege nicht sehen, die Ihre Tochter stattdessen gewählt hat? Ich glaube, es würde Josephine freuen, wenn Sie sich dafür interessieren könnten. Aus dem kleinen Wesen, das Sie zur Welt gebracht haben, ist ein wundervoller Mensch geworden. Sie haben ihr das Leben geschenkt, aber, Frau Hartmann, Sie müssen sie doch auch so leben lassen, wie sie es für richtig hält!«
Frau Hartmann schwieg betroffen, und Annemie dachte noch einen Moment nach, bevor sie wieder anhob zu sprechen.
»Sie haben Ihre Tochter zu einem wundervollen Menschen erzogen. Man kann Ihnen da nur gratulieren, denn man schließt sie sofort ins Herz, so phantasievoll und warmherzig, wie sie ist. Und so selbstbewusst! Verzeihen Sie, wenn ich das so direkt anspreche, aber Sie können ja beide auch ganz schön stur sein!«
Frau Hartmann seufzte stumm und sah Annemie hilflos an.
»Sie haben sich bestimmt immer gefragt, wie bekomme ich diesen Dickkopf nur dazu, das zu tun, was ich will, oder?«
Als Frau Hartmann immer noch schwieg, Annemie jedoch die Spur eines Lächelns in ihrem Gesicht entdecken konnte, fuhr sie ermutigt fort.
»Probieren Sie es doch einmal mit einer ganz anderen Frage, zum Beispiel, wie kann ich herausfinden, was meine Tochter wirklich will, und wie kann ich ihr dann helfen!? Das wäre doch ein wunderschönes Hochzeitsgeschenk. Besser kann eine Mutter ihre Tochter nicht beschenken …«
»Haben Sie eine Tochter?«
»Ich hatte eine Mutter«, erwiderte Annemie, die ganz aufgewühlt war, weil sie eigentlich von sich gesprochen hatte. Von ihren eigenen Wünschen, die sich nicht erfüllt hatten. »Aber wenn das Leben mir eine Tochter geschenkt hätte, wäre ich sehr stolz auf eine Tochter wie Ihre gewesen.«
»Was kann ich machen?« Frau Hartmann hatte Tränen in den Augen. »Was kann ich tun? Ich wäre so gerne bei ihr. Es ist ihre Hochzeit. Ich war so … Was kann ich bloß tun?«
»Sie wissen, wo die Hochzeit stattfindet.«
»Sie wird sich vielleicht ärgern, wenn sie mich sieht, und das will ich nicht. Die letzten Tage waren furchtbar. Ich will doch nur ihr Bestes. Sie soll doch ihren schönen Tag haben, so wie sie ihn sich vorstellt. Ich wäre nur so gerne dabei.«
Annemie zögerte einen Moment. Dann hatte sie eine Idee. Es gab eine kleine Orgelempore in der Kapelle, wenn Frau Hartmann früh genug da wäre, könnte sie sich ungesehen dort oben hinsetzen und die Trauung beobachten. Und dann gäbe es noch eine Aufgabe, die Frau Hartmann wunderbar übernehmen könnte …
Die Hochzeit war schön. Schlicht und schön. Blumenkränze zierten die Kirchenbänke, die alte Orgel, die schon ein wenig heiser klang, spielte melancholische sanfte Lieder. Der Pfarrer redete so schön von dem Weg, den die beiden nun zusammen beschreiten würden, dass fast alle, die in der Kirche waren, nach ihren Taschentüchern zu suchen begannen. Und als die Braut nach der Zeremonie dankbar Annemies Hand drückte, wusste sie gar nicht, wohin mit dem zerknautschten feuchten Tuch, das sie noch immer in der Hand hielt.
Josephine war eine wunderschöne Braut. Ihr Kleid war wie die ganze Hochzeit, schlicht und romantisch, und als sie sich in ihrem Garten unter dem alten Baum zwischen ihren Gästen bewegte, die sich alle besonders und erwählt fühlten, dabei
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