Wenn nicht jetzt, wann dann?
glückliche Tochter?«
»Nein«, erwiderte Annemie. »Überhaupt nicht. Was mich so erstaunt, ist, dass viele Eltern zu vergessen scheinen, dass ihre Kinder eigene Wege gehen müssen. Und dass sie ihnen so selten helfen. Was machen Sie denn mit Ihren Setzlingen? Sie bereiten sie auf das Leben draußen vor, und dann setzen Sie sie aus. Und Vögel machen das genauso.«
Sie warf der Amsel noch einen Krümel Brot hin.
»Sie tun alles für ihre kleinen Kinder, und dann schubsen sie die Kleinen aus dem Nest, damit sie fliegen. Aber Menschen wollen ihren Kindern immer auch noch die Flugbahn vorschreiben.«
Eine Weile schwiegen sie beide, und es war eine gemütliche Stille, die zwischen ihnen entstand. Annemie trank noch einen kleinen Schluck.
»Waren Sie denn ein glücklicher Sohn?«
Hannes dachte eine Weile nach, bevor er antwortete.
»Ich war so lange sehr unglücklich, dass ich vergessen habe, dass es einmal eine Zeit gab, in der ich nicht ganz so unglücklich war. Aber ich war nicht unbedingt der Sohn, den sich meine Eltern gewünscht hätten. Ich war anders. Da haben Sie schon recht mit Ihrer Flugbahn-Vorschrift. Und dann, so könnte man sagen, habe ich mich selbst aus dem Nest geschubst und bin hier gelandet.«
»In Ihrem ganz eigenen Nest.«
»Ja. Aber anfangs war ich hier auch ein zu dominanter Vater! Ich dachte, die Pflanzen machen genau das, was ich mit ihnen vorhabe. Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass Pflanzen nur dort wachsen, wo sie auch wachsen wollen. Sie wachsen nicht nach Plan. Sie verschwinden plötzlich, und manchmal tauchen sie an einer anderen Stelle wieder auf. Man muss sie einfach wachsen lassen, schauen, wohin sie eigentlich wollen, und sie dann dort unterstützen.«
»Wie Kinder.«
»Haben Sie die Staudenrabatte am Weg bemerkt?«
Annemie nickte.
»Die sieht ein bisschen wild aus.«
»Genau. Die Pflanzen dort machen das Gegenteil von dem, was ich eigentlich mit ihnen vorhatte, aber wenn es mir gelingt herauszufinden, was sie brauchen, dann gedeihen sie aufs Beste. Der Rittersporn hat mich zum Beispiel jahrelang zur Verzweiflung getrieben. Er ist regelmäßig verschwunden. Einfach komplett verschwunden. Bis ich die Stelle im Beet gefunden habe, an dem es ihm gefällt. Jetzt treibt er meterhohe Blütenrispen.«
»Er belohnt Sie mit Blüten, weil Sie ihn verstehen.«
»Ich glaube, jedes Lebewesen blüht auf, wenn es verstanden wird und bekommt, was es braucht.«
Er sah sie an und trank sein Glas leer.
»Haben Sie außer den fünf Nüssen schon etwas zu Abend gegessen?«
Als Annemie verneinte, stand er auf.
»Ich auch nicht. Ich habe nie viel da, weil ich, wie Sie wissen, nicht viel Platz habe und keine Gäste hier vorbeikommen. Aber heute haben wir eine Ausnahme: Darf ich Sie einladen, zum Abendessen zu bleiben?«
»Ich weiß nicht.« Annemie zögerte. »Ich will Ihnen keine Umstände machen, und der Bus fährt bestimmt …«
»… auch noch in einer Stunde«, unterbrach er sie und ging einfach voraus, als ob das Thema damit erledigt wäre. Annemie blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzugehen.
Als sie nach einem improvisierten Abendessen, das aus Brot, einem Stück Käse und einem Bund Radieschen mit Butter und Salz und noch einem Glas Wein bestanden hatte, doch gehen musste, bevor der letzte Bus fuhr, war es dunkel geworden. Mit einer Taschenlampe schnitt Hannes noch einen Blumenstrauß, ohne den er sie nicht gehen lassen wollte, und begleitete sie dann mit den Blumen in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand zur Bushaltestelle, wo sie zusammen warteten. Als der Bus ankam und die Tür sich öffnete, hielt Hannes ihren Arm, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, und reichte ihr mit einer kleinen Verbeugung die Blumen.
Das grelle Neonlicht im Bus blendete Annemie, so dass sie anfangs die Augen zusammenkneifen musste und die dämmrige Gemütlichkeit von Hannes Winters Laube umso mehr vermisste. Zu Hause stellte sie ihre Blumen in eine Vase und staunte, dass bereits jedes Zimmer ihrer Wohnung von einem Strauß aus der Gärtnerei Winter geschmückt wurde. Und das fühlte sich an wie Sommer.
Für Annemie war es die Woche der Abendessen mit den Brüdern Winter. Denn Claus Winter rief wie angekündigt am nächsten Tag bei ihr an und verabredete mit ihr, sie abends um sechs vor ihrer Haustür abzuholen. Sie nannte ihm ihre Adresse und überlegte, was sie zu so einem Essen anziehen könnte. Nach dieser mehrtägigen Berufstätigkeit stieß sie
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